Funktionelles Trainieren: Eine kritische Betrachtung

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Functional Fitness ist Trend: Das Trainieren spezieller Übungen verspricht das Steigern der Leistung in ungeahnte Höhen und selbst große Fitness-Ketten bieten „Funktionelles Training“ oder „Functional Training“ in Kurssystemen an. Doch was taugt das Konzept wirklich?

Grundlage dieses Trainingssystems bildet die Philosophie des amerikanischen Physiotherapeuten Gray Cook, nach dessen Annahmen ein Training insbesondere dann „funktionell“ ist, wenn es Bewegungen aus dem Alltag nahe kommt. Wir wollen heute die Grundlagen eines funktionellen Trainierens hinterfragen und ergänzend zum bald erscheinenden Schwerpunktheft „Athletik Training“ erste Überlegungen zur Funktionalität Ihres Trainings vorstellen.

Ob das Abgrenzen eines „funktionellen“ Trainings von einem unfunktionellen Trainieren überhaupt möglich ist und welche Übungen denn nicht funktionell sind, soll in diesem Beitrag diskutiert werden. Bei der historischen Analyse des Themas fällt auf, dass die Diskussion zur Funktionalität gar nicht so neu ist, jedoch erst jetzt wieder an Aktualität gewonnen hat.

 

Start der Funktionsgymnastik

Gymnastik und Kräftigungstraining erlebten Mitte der 1980er Jahre einen Paradigmenwechsel. Die Funktionsgymnastik löste die bis dahin im Vordergrund stehende Zweckgymnastik ab, mit dem Ziel, die Ansätze funktionellen Trainierens in den Mittelpunkt des Sports zu stellen.(1) Kritisiert wurden beispielsweise zu diesem Zeitpunkt extreme Bewegungsformen, wie das Überstrecken des Fußes bei Turnübungen aus ästhetischen Gründen. „Funktionell“ wurde in diesem Zusammenhang wohl primär aus der Perspektive des „Funktionieren des menschlichen Körpers“ gesehen, wobei anatomische und physiologische Grundlagen des Körpers berücksichtigt werden sollten. Vor diesem Hintergrund wurden etablierte Übungen als unfunktionell betrachtet, da ihnen zugeschrieben wurde, gesundheitliche Schäden verursachen zu können.

 

Paradigmenwechsel

Wie inflationär der Begriff „funktionell“ in der Fitnessbranche gebraucht wird, zeigt die Einteilung von Trainingsübungen in „funktionell“ und „unfunktionell“. Die für das Bauchmuskeltraining effektiv eingesetzten Übungen „Situps“ und „Beinheben im Hang“ wurden aus Sicht der Funktionsgymnastik in den 1980er Jahren als schädlich und krankmachend beschrieben. Eine Krankenkasse titelte in einer Veröffentlichung zum funktionellen Training sogar mit „Krankmacherübungen“. Begründet wurde dies mit der Annahme, dass schädigende Bandscheibenbelastungen auftreten würden und das Trainieren der Hüftbeugemuskulatur innerhalb dieser Übungen zu einer Verkürzung derselben führen könnte. Das wiederum soll die zur Verkürzung neigenden Hüftbeugemuskulatur weiter verstärken.(2)

In späteren empirischen Untersuchungen konnten diese Annahmen jedoch widerlegt werden. Sit-Ups und auch das Beinheben sind effektive Übungen für die Bauchmuskulatur. Aus der Sicht des modernen „funktionellen Trainings“ sind diese komplexen Übungen sogar dem isolierten Training der Bauchmuskulatur vorzuziehen. Die Funktionalität von denselben Übungen wurde im Laufe der Zeit von ein und der selben Strömung unterschiedlich bewertet. Auch wenn bei Bauchübungen mitunter die Hüftbeuger beansprucht werden, bleiben physiologisch betrachtet die Bauchmuskeln der leistungslimitierende Faktor, so dass auch das Beinheben und Sit-ups durchaus sehr geeignet sind, um die Bauchmuskulatur zu trainieren.

Das übermäßige Verkürzen des Hüftbeugers aufgrund der Trainingsbelastung hat sich in Untersuchungen jedoch nicht bestätigt! Das Einteilen in funktionelle und unfunktionelle Übungen auf Basis der Angst vor „zu Verkürzung“ oder „zu Abschwächung“ neigender Muskulatur ist somit unzulässig.

 

Was ist eine muskuläre Dysbalance?

Im Rahmen der Entwicklungsgeschichte der Funktionsgymnastik entstanden theoretische Konstrukte zu bestimmten Eigenschaften der Muskulatur. In subjektiven Muskeltests zeigten einige Muskeln erstaunlich schwache Leistungen während andere eine unerwartet hohe Spannung aufwiesen.(2) Aus diesen Beobachtungen heraus etablierte sich die Sichtweise, dass es Muskeln gäbe, die zur Abschwächung neigten, während andere eher zur Verkürzung neigen sollten. Diese Reaktionen sollen physiologische Reaktionen bestimmter Muskelgruppen sein und keineswegs pathologische Veranlagungen. Allerdings basiert diese Einteilung ebenso wie die theoretischen Grundlagen lediglich auf Meisterlehren und halten einer kritischen Überprüfung nicht stand.(2,3) Auch moderne mikrobiologische Befunde sprechen gegen diese Theorie, so dass wichtige Grundlagen der Funktionsgymnastik primär nicht auf empirischen Befunden zu beruhen scheinen.

 

Nicht-funktionell kann funktionell sein!

Während Vertreter des funktionellen Trainings oft einseitig freie Übungen als funktionell beschreiben, muss eine umfassende Betrachtung des Themas auch isoliertes Training an einer Maschine als funktionelle Trainingsform beinhalten. Die Frage nach der Funktionalität muss eben stets vor dem Hintergrund des individuellen Sportlers und der mit dem Training verbundenen Fragestellung betrachtet werden. Wenn beispielsweise ein Kniepatient infolge einer Kreuzbandruptur mit dem muskulären Aufbautraining beginnt, kann es sein, dass insbesondere die medialen Anteile des Oberschenkelstreckers – also die Muskelanteile an der Oberschenkelinnenseite – stark an Kraft eingebüßt haben. Diese müssen aus Sicht von wirklich funktionellen Therapiekonzepten möglicherweise zunächst isoliert trainiert werden, bevor komplexe Trainingsübungen korrekt ausgeführt werden. So kann ein isoliertes Trainieren eines bestimmten Muskelanteils eben durchaus auch eine Form des funktionellen Trainierens sein.

 

Übungen müssen differenziert betrachtet werden

An dem eben genannten Beispiel ist erkennbar, dass eine generelle Einteilung in gesunde und schädigende Übungen nicht möglich ist. Je nach Fragestellung lassen sich Begründungen und Einsatzzwecke für vielfältige Trainingsformen fi nden, so dass ein wirklich „funktionelles Trainieren“ abhängig vom Trainingsstand des Athleten, von der Zielstellung und von etwaigen Vorerkrankungen ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich sogar die Frage, ob der Begriff „Funktionalität“ bzw. „Funktionell Trainieren“ nicht gänzlich überfl üssig ist und vielmehr ein Marketing Gag für das Einführen neuer Trainingstrends darstellt. Trainer dürfen Übungen also nicht anhand von vermeintlich „richtigen“ oder „falschen“ Übungen auswählen, sondern allein auf der Basis des vor ihnen stehenden Athleten. Bei einem Patienten in der Rehabilitation sind andere Maßstäbe für ein funktionelles Vorgehen anzusetzen wie bei einem Leistungssportler. Das alleinige Bevorzugen von koordinativ anspruchsvollen Übungen oder komplexen Bewegungsabläufen ist unzulässig, wenn es um die Betrachtung der „Funktionalität“ geht.

Hinzu kommt, dass das Trainingsziel unbedingt zu berücksichtigen ist. Kraftgewinn und Koordinationsverbesserung sind unterschiedliche Zielstellungen, die unterschiedlicher Trainingsmethoden bedürfen. Im „funktionellen Training“ wird beides oftmals vermischt, so dass Kniebeugen einbeinig auf einem instabilen Untergrund oder als Kastenaufsteiger trainiert werden. Kraftsteigerungen sind so nur begrenzt möglich, während das Koordinationstraining im Vordergrund steht. Auch hier gilt, dass die Zielstellung letztendlich die Trainingsmethode bedingt und nicht eine Übung universell eingesetzt werden kann.

 

Fazit

Ob eine Übung als funktionell beschrieben werden kann oder nicht ist letztendlich allein von den individuellen Voraussetzungen und Zielen des Sportlers abhängig, der diese Übung durchführt. Eine Übung selber kann aus dieser Sicht überhaupt nicht in die Kategorien „funktionell“ oder „unfunktionell“ eingeordnet werden. Allein die Anforderungen an den Sportler sowie dessen Eigenschaften bilden die Grundlagen für die Entscheidung für oder gegen eine Übung. Das Etikett „funktionell“ erscheint so überfl üssig, da Übungen zwar anhand ihrer Komplexität oder ihres Schwierigkeitsgrads eingeteilt werden können, nicht jedoch anhand ihrer Funktionalität. Letztendlich scheint der „Begriff“ funktionell zu suggerieren, dass ein Training besonders effektiv bzw. besonders übertragbar sein soll. Dabei erscheint bereits in der Betrachtung der Funktionsgymnastik auf Basis empirischer Vergleiche mit klassischen Übungen, dass ein Großteil der Annahmen zur „Funktionalität“ von Übungen allein auf theoretischen Überlegungen und Vermutungen zu beruhen scheinen.

An empirischen Untersuchungen in Bezug auf funktionelle Übungsauswahlen mangelt es hingegen noch bei weitem. Aus diesem Grund sollte auch vorsichtig agiert werden, wenn es um die Bewertung von Übungen geht. Letztendlich entscheidet das Trainingsziel über die Auswahl der Trainingsinhalte – das gilt um so mehr, als dass auch die Trainingsmethode ein entscheidender Faktor ist! Wenn es um das Verbessern der Kraftfähigkeit geht, gelten andere Voraussetzungen als beim Steigern der Koordinationsfähigkeit oder der Ausdauerleistungsfähigkeit. Letztendlich muss der Trainer in jedem Einzelfall entscheiden, welche Übungen er mit welcher Begründung anwendet – ein „Falsch“ gibt es dabei per se erst einmal nicht, denn wie bereits dargestellt sind im Einzelfall auch isolierte Trainingsübungen möglicherweise funktionell, wenn das Verbessern der Funktion auf Basis dieser Übungen erreicht werden kann. Das einseitige Bevorzugen von Übungen aus dem Bereich des „Functional Training“ oder der „Funktionsgymnastik“ sind jedoch nicht empfehlenswert.

 

Tipps für Ihr Training

– Beachten Sie die Ausgangssituation Ihres Trainings.

– Belastbarkeit und Beanspruchung im Training sind aufeinander abzustimmen.

– Berücksichtigen Sie die Zielstellung in Ihrem Training.

– Stimmen Sie die persönlichen Ziele mit den Trainingsmethoden ab.

– Trainingsmethoden sind ausschlaggebend für die Auswahl der Übung.

– Einzelne Übungen sollten nicht per se als „unfunktionell“ abgelehnt werden.

– Eine Einteilung von Übungen in „funktionell“ und „unfunktionell“ ist nicht zielführend.

– Stimmen Sie Ihr Training auf Ihre aktuellen Fähigkeiten ab.

Lesen Sie auch: Funktionell trainieren – Wie funktionell ist Functional Training wirklich?

  

Dennis Sandig

 

Literaturangaben:

1. Knebel, K.-P., 1985, Funktionsgymnastik. Reinbeck: Rowolth.

2. Gesundheitssport und Sporttherapie, 2000, Bd. 16, S. 128 –133.

3. Klee, A., 1995, Haltung, muskuläre Balance und Training. Frankfurt am Main: Harri Deutsch.

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Über den Autor

Dennis Sandig

Dennis Sandig arbeitete als Sportwissenschaftler am Institut für Sportwissenschaften der Julius-Maximilians Universität in Würzburg. Aktuell ist er bei der Deutschen Triathlon Union als Wissenschaftskoordinator und Referent für Bildung zuständig, sowie für das umfassende Aus- und Fortbildungsprogramm für Coaches im Triathlon.

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