Die Herzfrequenzvariabilität (HRV) liefert wichtige Daten über die Stressbelastung des autonomen Nervensystems und lässt sich in Stressbewältigungsmaßnahmen integrieren. Sogenannte HRV-Messungen eignen sich auch zum Erkennen von Schlafstörungen wie Schlafapnoe oder Schlaflosigkeit, die als Stresssymptom auftreten können.
Inhaltsverzeichnis
- Das autonome Nervensystem
- Cortisol
- Was sagt die Herzfrequenzvariabilität aus?
- Was beeinflusst die Herzfrequenzvariablität?
- Stress quantifizieren
- Wie misst man die HRV?
Kann das autonome Nervensystem die Herzfrequenz beeinflussen?
Das autonome Nervensystem des Menschen ist faszinierend, aber auch sehr komplex. Jeder Mensch verarbeitet Reize völlig unterschiedlich. Ob wir durch bestimmte Ereignisse oder Reize gestresst werden, hängt davon ab, wie stark unsere Kontrolle über die Ereignisse ist und wie gut unsere „technischen“ oder „taktischen“ Fähigkeiten sind, neue Reize zu bewältigen. Hat der Stressreiz jedoch eine gewisse Schwelle überschritten, dann wird eine Reaktionskaskade ausgelöst, die immer gleich ist. Zu diesen Reaktionen beziehungsweise Symptomen zählen ein erhöhter Puls, eine schnellere Atmung, ein verringertes Schmerzempfinden, ein verbesserter Fokus und eine Leistungssteigerung.
Cortisol
Das körpereigene Hormon Cortisol zählt zu den wichtigsten Stresshormonen und ist an der Entstehung von Burnout und einer großen Zahl physischer Erkrankungen beteiligt. Sobald Sie sich einer potenziellen Gefahr ausgesetzt sehen, wird eine Stressreaktion in Ihrem Organismus ausgelöst. Zunächst werden die Stresshormone Noradrenalin und Adrenalin in schnellen Schüben freigesetzt – vielfach als „Fight-or-Flight-Syndrom“ beschrieben. Danach schüttet Ihr Körper Cortisol aus, was einmalig kein großes Problem darstellt, da der Cortisolspiegel durch die nachfolgende Phase der Entspannung wieder sinkt. Ein chronisch erhöhter Cortisolspiegel dagegen kann die Funktion des Immunsystems herabsetzen und Immunfunktionsstörungen, Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit und Herzerkrankungen begünstigen. Außerdem trägt ein erhöhter Cortisolspiegel zur Entstehung von Störungen der Gehirnleistung, Angstzuständen, Depressionen, Stimmungsschwankungen, Gedächtnisverlust, Konzentrationsproblemen und verschiedenen psychischen Störungen bei.
Was sagt die Herzfrequenzvariabilität aus?
Das Herz ist der größte, aber auch sensibelste Muskel. Da es direkt vom Nervensystem beeinflusst wird, schlägt es bei Veränderungen oder Einflüssen auch schnell an. Die Steuerung erfolgt durch den Sympathikus und den Parasympathikus. Je stärker der Sympathikus das Heft des Handelns in die Hand nimmt, desto stärker angespannt ist der Mensch. Woher der Stress resultiert – ob vom Training, Job oder Familienleben –, ist dem Organismus egal. Er reagiert mit einem Adrenalinausstoß, geweiteten Pupillen und erhöhter Herzaktivität. Hier setzt die Ermittlung der Herzfrequenzvariabilität an – sie macht den Stress messbar.
Der aus der Kardiologie stammende Begriff „Herzfrequenzvariabilität“ ist erst in den vergangenen Jahren von der Trainingswissenschaft und von Schlafforschern entdeckt worden. Die HRV gibt den Abstand zwischen den einzelnen Herzschlägen wieder – das sog. RR-Intervall aus dem EKG. Je gleichmäßiger die Abstände zwischen den einzelnen Schlägen sind, desto ausgeruhter und fitter sind wir. Wenn das Herz jedoch in Ruhe unregelmäßig pocht, kann eine gesundheitliche Beeinträchtigung und/oder eine mangelnde Regeneration die Ursache sein. Die Variabilität nimmt ab, wenn durch Stress, Bewegung oder aber auch eine Erkrankung der Puls ansteigt. Durch Entspannung, gezielte Atemtechniken und Meditation steigt die HRV wieder an. Unser Herzschlag variiert also ständig und passt sich so den physischen und psychischen Umständen und Anforderungen an.
Was beeinflusst die Herzfrequenzvariabilität?
Eine Schlüsselrolle für die Betrachtung der Herzratenvariabilität übernimmt das autonome Nervensystem (ANS). Es reguliert u.a. die Herz-Kreislauf-Funktionen während des Schlafbeginns und in verschiedenen Schlafstadien. So ist das Schlafstadium der schnellen Augenbewegungen (REM-Phase) durch eine wahrscheinlich sympathische Dominanz gekennzeichnet, während diese während des Nicht-REM-Schlafes nicht beobachtet werden kann. Folgende Faktoren beeinflussen die Herzratenvariabilität:
- Physische Aktivität (Bewegung/Sport)
- Stressempfinden
- Emotionale Prozesse
- Regeneration
- Lage- oder Richtungswechsel
- Atmung (forciertes Ein- oder Ausatmen)
- Autonomes Nervensystem
- Krankheiten und Verletzungen
Stress quantifizieren
Es gibt derzeit viele unterschiedliche Ansätze, um Stress mit Zahlenwerten zu belegen. Es existieren auf dem Markt sehr viele Gadgets für den Hausgebrauch, die eine pseudowissenschaftliche Genauigkeit besonders in puncto Schlafmessung vorgeben. Überprüft und hinterfragt man deren Grafiken, bleibt oftmals nicht mehr viel von deren Aussagekraft übrig. Gängige „Stress messer“ sind u. a. Bewegungssensoren in Wearables (z.B. fitbit), Puls-Brustgurte (z. B. Polar H7), Langzeit-EKGs mit Accelerometrie (z. B. Nambaya), optische „photoplethysmographische“ Sensoren (z. B. Smartwatches und Oura Ring), piezoelektrisch-elektromechanische Streifen (z. B. EmfitQS), Laborparameter (Cortisol, Testosteron, CK, CRP etc.) und Fragebögen (z. B. ARRS).
Wearables und Smartwatches, die die Belastung mittels Accelerometrie und Photoplethysmographie (PPG) bestimmen – also Bewegung und Herzfrequenz berücksichtigen –, nehmen durch den technischen Fortschritt in der Genauigkeit immer mehr zu. Tagsüber entstehen bei intensiver Bewegung nach wie vor Artefakte, die oftmals keine zufriedenstellenden Analysen zulassen. In Ruhe nimmt die Genauigkeit dagegen deutlich zu. Die Herzfrequenzvariabilität ist derzeit einer der vielversprechendsten Marker für die Regulation des autonomen Nervensystems und somit auch für den Wechsel von Belastung und Regeneration. Sie erfordert jedoch die Erfassung eines EKG-Signals, um die RR-Intervalle zuverlässig zu erfassen.
Wie misst man die Herzfrequenzvariabilität?
Generell gibt es zwei gängige Methoden für die HRV-Messung: die Kurzzeitmessung (2–15 Minuten) und die Langzeitmessung (12–24 Stunden). HRV-Indizes aus der PPG-Analyse (Pulsratenvariabilität, PRV) sind derzeit schon in der Erprobung. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Pulsratenvariabilität als Alternative für die HRV-Analyse bei gesunden Probanden in Ruhe verwendet werden kann. Nach Belastungen oder bei Herzpatienten sind die Ergebnisse jedoch mit Vorsicht zu verwenden.
Klassische Pulsgurte sind oftmals ebenso ungeeignet, da sie nachts oft als unangenehm empfunden werden und die Abtastrate des Herzschlags in der Regel für eine genaue Bestimmung der RR-Abstände zu gering ist. Pulsgurte sammeln die Daten mit einer Frequenz von 60 Hz. Um ein halbwegs genaues Bild der HRV zu bekommen, benötigen wir jedoch mindestens 250 Hz oder noch besser 500 Hz. Diese medizinisch genauen Daten liefert die aktuelle Generation von EKG-Rekordern. Die wasserdichten Bittium Faros 180- und 360-EKG-Rekorder ermöglichen zusammen mit Patch-Elektroden Langzeit-EKG-Aufnahmen für jeweils 3 bis 7 Tage. Dabei können die Probanden körperlich aktiv sein, Sport treiben und auch duschen, ohne den Rekorder zu entfernen oder die Aufnahme stoppen zu müssen.
Die piezoelektrischen Streifen, die unter der Matratze platziert werden, eignen sich sehr gut zur Verlaufskontrolle, da sie nichtinvasiv sind und nicht als störend empfunden werden. Durch die Matratze den Herzschlag zu messen, klingt zunächst befremdlich, ist aber schon seit ein paar Jahren Realität: Wir können den Herzschlag und sogar die Atmung durch die Matratze hindurch messen. Zudem können die Sensoren recht exakt die Bewegungen während des Schlafs aufzeichnen. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil dieser Geräte ist, dass wir als Ärzte und Betreuer aus der Ferne die Schlafdaten unserer Klienten erfassen können. Nicht nur die eingesetzte Messmethode, sondern auch die Auswahl der Algorithmen bestimmt die Aussagekraft der Schlaf- und Regenerationsanalysen. Daher bedarf es der kritischen Betrachtung durch einen geschulten Experten, um gezielte Empfehlungen zur Optimierung der Regenerationsphase zu geben.
Unser Buch zum Thema „Richtig schlafen“: Geschrieben von unseren Trainingsworldexperten!
Endlich richtig ausgeschlafen – Bewährte Konzepte für gute Nächte
Was raubt uns eigentlich den Schlaf? Alkohol, Essen, Stress, anstrengender Sport, Koffein, Elekrosmog, schlechtes Raumklima…
Dies sind nur einige dieser gemeinen Schlafräuber, die uns oft schon – ohne dass wir es bewusst merken – weit vor dem Zubettgehen begegnen. Wie wir ihnen bewusst und entschlossen entgegentreten können, erklären zwei renommierte Schlaf- und Regenerationsexperten anhand vieler individueller Beispiele in diesem praxisorientierten Ratgeber.
So gibt es ganz unterschiedliche Ansätze, die eigene Schlafqualität zu verbessern: von kleinen Helferlein und Tools über eine entspannungsfördernde Schlafzimmereinrichtung bis hin zu spezieller Ernährung sowie präventivem Stressmanagement.
Plus: Ein Selbsttest, anhand dessen jeder ganz individuell ermitteln kann, was ihm in puncto Schlaf besonders wichtig ist.
Autor: Dr. Lutz Graumann ist Sportmediziner und betreut Militärs, Spitzensportler und Klienten aus der Industrie. Er ist der aktuelle Präsident der „International Association of Performance Medicine“. Seine Publikationen erscheinen regelmäßig in nationalen und internationalen Fachmagazinen.