Bloß nicht mit rundem Rücken heben! Oder doch? Die Wirbelsäule und die Bandscheiben sind belastbarer, als wir vermuten. Doch wann kann mit rundem Rücken gehoben werden und wann besser nicht? Der EM-Goldmedaillengewinner und Wissenschaftler Alexander Pürzel räumt mit Klischees auf und leitet euch durch seine eigene Europameisterschaftsreise des Kraftdreikampfs im Jahr 2016 – hinterlegt mit wissenschaftlichen Fakten seiner aktuellen Studien. Aufgrund der Missachtung von Trainingsprinzipien erlitt er ein Rückenleiden und möchte daher Aufklärungsarbeit leisten. Wissenschaftliche Erkenntnisse treffen hier auf persönliche Erfahrung.
Wie oft haben wir als Trainierende folgende Aussagen bereits gehört: „Lange machts dein Rücken nicht mehr!“ oder „Sag ‚Hallo‘ zu deinen Bandscheiben.“ Wie häufig waren wir gezwungen, uns für unsere Trainingsmethoden, unsere Bewegungen und die Ausführung unserer Übungen zu rechtfertigen?! Und vor allem: Wie oft mussten wir das vor Menschen tun, die von Bewegung per se, körperlichen Strukturen oder biomechanischen Gegebenheiten weniger Ahnung hatten als wir selbst?! Bitte versteht mich nicht falsch: Ich liebe es, Fragen zu beantworten und Sachverhalte nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären. Was ich aber absolut nicht leiden kann, sind unreflektierte, generalisierte und auf keinen wissenschaftlichen Tatsachen beruhende Statements, die oft nur verunsichern. Um unter das Thema, das mir am Herzen liegt, einen Schlussstrich ziehen zu können, möchte ich über die Thematik „Heben mit rundem Rücken“ aufklären und diese aus unterschiedlichen Richtungen beleuchten – immer im Hinterkopf behaltend, dass wir gegen jahrzehntelange Ansichten und Meinungen vorgehen müssen, die sich durch verschiedene Gesellschaftsschichten ziehen. [1,2] Lasst uns in medias res gehen und erkunden, wo die wahren Gründe, Gefahren und Vorteile des Hebens mit rundem Rücken liegen. Ich will sowohl den Aspekt „Gesundheit“ als auch den Aspekt „Leistung“ beleuchten; zweiterer ist ohne den ersten auf lange Sicht nicht möglich.
Euch ist sicherlich bekannt, mit welchen einzigartigen Strukturen wir es zu tun haben. Die Wirbelsäule mit ihren 147 (!) Gelenken (je nach Zählweise) ist eine hochspezialisierte Einrichtung des Körpers, die vielseitige Aufgaben wie den Schutz des Rückenmarks, die Tragsäule des Körpers und höchste Beweglichkeitsanforderungen vereint. Wir sprechen hier von im Schnitt 280° Beuge-/Streckfähigkeit, 90° Rotationsfähigkeit und 75° Seitneigefähigkeit. Allein diese Zahlen sprechen Bände! Die Wirbelsäule und all ihre Strukturen sind geschaffen für Bewegung. Was wir uns nun ansehen müssen, ist das Verhalten unter Belastung. Und das tun wir mit einer wahren Geschichte aus dem Jahr 2016.
Über den Autor
Alexander Pürzel ist Sportwissenschaftler und EM-Goldmedaillengewinner. Er forscht an der Universität Wien im Bereich Biomechanik in der Neuromechanics Research Group. Seine Leidenschaft ist das Krafttraining; sein Wissen hierüber teilt er in Büchern, Seminaren und Vorträgen. Dank jahrzehntelanger Erfahrung als Coach, Athlet und Referent prägt er die Branche.
@alex_puerzel www.alexanderpuerzel.com
Quellen
[1] Caneiro, J. P., O‘Sullivan, P., Smith, A., Overbekk, I. R., Tozer, L., Williams, M., Teng, M. L. W., Lipp, O. V. (2019). Physiotherapists implicitly evaluate bending and lifting with a round back as dangerous. Musculoskelet Sci Pract. 39. 107–114.
[2] Nolan, D., O‘Sullivan, K., Stephenson, J., O‘Sullivan, P., Lucock, M. (2018). What do physiotherapists and manual handling advisors consider the safest lifting posture, and do back beliefs influence their choice? Musculoskelet Sci Pract. 33. 35–40.
Fotos: Flamingo Images – Adobe Stock, Alexander Pürzel