Bewegungstherapie: Bei der Behandlung vieler psychischer Erkrankungen spielen Sport und Bewegung eine wichtige Rolle, fördern sie doch die Ausschüttung von sog. Glückshormonen. Doch auch das Verhalten der Trainer oder Therapeuten gegenüber den Betroffenen ist ein wichtiger Faktor, der den Erfolg der Bewegungsmaßnahmen beeinflusst. Wie gelingt eine positive Kontaktgestaltung?
Warum ist eine Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen sinnvoll?
Sport und Bewegung gelten allgemein als Mittel, um Wohlbefinden und Lebensqualität zu steigern. Beides sind Erlebensbereiche, die von psychischen Prozessen abhängig sind. Diese Prozesse sind im Fall von psychischen Erkrankungen maßgeblich gestört und über Willensprozesse kaum beeinflussbar. So kann sich beispielsweise eine Person mit einer Depression zwar bewusst fest vornehmen: „So, ab sofort will ich endlich mal wieder glücklich sein!“, oder sich ein ADHS-Patient willentlich in die Pflicht nehmen: „Von nun an will ich in jeder Situation ruhig und konzentriert bleiben!“. Eine wirkliche Chance, ihre leidvolle Situation auf diesem Weg nachhaltig zu verändern oder gar grundlegend zu beenden, haben die Betroffenen aber leider nicht.
Der Grund hierfür liegt in psychischen Prozessen, die in basalen Schichten unseres Gehirns stattfinden. Diese finden auf Basis neurochemischer Abläufe statt und sind für unser Erleben und Wohlbefinden maßgeblich. Unseren bewussten Möglichkeiten zur Selbststeuerung und Verhaltenskontrolle entziehen sie sich allerdings nahezu komplett. In diesem Zusammenhang wird in der Wissenschaft auch von „affektivem Befinden“ gesprochen. Seine Qualität ergibt sich durch das Zusammenspiel der drei Dimensionen Valenz (Unlust vs. Lustempfinden), Aktivierung (körperliche Aktivität vs. Ruhe) und Vigilanz (mentale Wachheit vs. Müdigkeit).
Was macht man bei der Bewegungstherapie?
Bewegung bringt neurochemische Abläufe in Gang, die sich positiv auf das affektive Befinden auswirken. Dies ist der Grund, warum bereits einzelne Bewegungseinheiten unabhängig von anderen Maßnahmen zur allgemeinen Steigerung von Wohlbefinden und Lebensqualität beitragen können. Auf sämtliche dieser neurochemischen Abläufe einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels allerdings sprengen. Zum allgemeinen Verständnis betrachten wir zwei Hauptdarsteller dennoch kurz näher: die beiden oftmals als „Glückshormone“ bezeichneten Neurotransmitter Dopamin und Serotonin.
Neurotransmitter sind Stoffe, durch die auf chemischem Weg die Art und Weise der Erregungsübertragungen zwischen Zellen organisiert wird. Dabei spielt Dopamin eine entscheidende Rolle für das Empfinden von Wachheit, Freude und Lust. Serotonin dagegen sorgt für das Empfinden von angenehmer Ruhe und wohltuender Entspannung. Eine Depression beispielsweise ist gekennzeichnet durch eine gestörte Ausschüttung dieser beiden Transmitter. Entsprechend spielt Bewegung, zum Beispiel in Form einer Bewegungstherapie gerade bei diesem Krankheitsbild eine sehr große Rolle. Körperliche Aktivität führt zu einer vermehrten Ausschüttung von Dopamin (während der Aktivität) wie von Serotonin (danach). Sie trägt damit bei psychischen Problemen und Störungen zur Verbesserung des affektiven Befindens bei.
Was machen Bewegungstherapeuten und -trainer?
Die positiven Effekte, die Bewegung im Bereich psychischer Erkrankungenerzielen kann, sind allerdings nur bedingt als reine Selbstläufer zu verstehen. So zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass der Erfolg von therapeutischen Maßnahmen unabhängig von den Inhalten wesentlich davon abhängt, ob es den Therapeuten bzw. Trainern gelingt, Beziehungen zu ihren Patienten/ Klienten aufzubauen, in denen sich diese wohlfühlen und Vertrauen entwickeln. Und auch hier spielen die beiden Neurotransmitter Dopamin und Serotonin eine maßgebliche Rolle.
Somit steht und fällt der Erfolg therapeutisch orientierter Bewegungsmaßnahmen auch damit, inwieweit Bewegungstherapeuten oder -trainer die Beziehungsebene in ihrer Zusammenarbeit mit Einzelpersonen und/oder Gruppen positiv gestalten. Um dies zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Arbeiten des deutschen Psychotherapeuten Klaus Grawe (1943–2005). Demnach streben Gehirn und Psyche nach Konsistenz. Darunter ist ein Zustand des Organismus zu verstehen, in dem die ablaufenden neuronalen und psychischen Prozesse miteinander vereinbar sind. Konsistenz führt zum Erleben eines angenehmen affektiven Befindens. Das ergibt sich – wie Sie nun bereits wissen – u. a. durch entsprechende Dopamin- und Serotoninausschüttungen.
Die Bedeutung von Konsistenz für das Wohlbefinden
Laut Grawe befindet sich der menschliche Organismus im Zustand der Konsistenz, wenn vier maßgebliche menschliche Grundbedürfnisse befriedigt werden. Diese sind Bindung, Orientierung und Kontrolle, Erfahren von Lust- und Vermeidung von Unlustempfindungen sowie Selbstwertbestätigung und Selbstwertschutz. Werden diese Grundbedürfnisse nicht befriedigt, befindet sich der Organismus im Zustand der Inkonsistenz. Dies ist der Fall, wenn eine Nichtvereinbarkeit zwischen der Befriedigung zweier oder mehrerer der genannten Bedürfnisse besteht oder ein einzelnes bzw. mehrere Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden können. Inkonsistenz führt zu einem als unangenehm erlebten affektiven Befinden. Das liegt nicht nur daran, dass man in solchen Situationen kaum Dopamin oder Serotonin ausschüttet, sondern andere Neurotransmitter – primär Stresshormone wie etwa Adrenalin und Cortisol – verstärkt in die Befindlichkeitssteuerung eingreifen.
Wie entstehen psychische Erkrankungen aus Inkonsistenz?
Dauert der Zustand der Inkonsistenz längere Zeit an, so beeinträchtigt das nicht nur das Wohlbefinden. Die anhaltende Ausschüttung der entsprechenden Neurotransmitter führt zu ungünstigen neuroplastischen Veränderungen im Gehirn. Das beeinträchtigt letztlich die Effektivität psychischer Prozesse nachhaltig. Auf diesem Weg kann eine anhaltende Inkonsistenz auch verantwortlich für die Ausbildung physischer und psychischer Störungen sein. Und im Fall bereits bestehender psychischer Störungen lauert die Gefahr eines sich aufschaukelnden Teufelskreises. Psychische Störungen führen zu einem verstärkten Inkonsistenz-Erleben; dies wiederum befeuert die psychische Störung weiter und es geht wieder von vorne los.
Gestützt durch Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, setzt Klaus Grawe hier sogar noch einen oben drauf. Kommt es in den ersten Lebensjahren zu anhaltenden Inkonsistenz-Erfahrungen, so scheint dies die primäre Ursache für die Entwicklung psychischer Störungen im späteren Lebensverlauf zu sein. Demnach sind frühkindliche Erfahrungen permanent mit neurobiologischen Prozessen gekoppelt, die maßgeblich darüber entscheiden, in welcher Art und Weise sich das Gehirn entwickelt. Sind diese Erfahrungen überwiegend bestimmt von Inkonsistenz-Erlebnissen, so wirkt sich das in hohem Maße negativ auf die Entwicklung und Stabilisierung u. a. von Gehirnregionen aus, die das emotionale Erleben bestimmen und in denen die Fähigkeit zur Selbstregulierung und Selbststeuerung organisiert wird.
Welche Rolle spielt die Trainer/Therapeuten-Kunden-Beziehung in der Bewegungstherapie?
Wichtig für Bewegungstherapeuten und -trainer ist nun, Folgendes zu verstehen: Ob sich der Organismus von Patienten/Klienten im Stadium der Konsistenz oder Inkonsistenz befindet, ist ganz grundlegend davon abhängig, in welcher Art und Weise sie den zwischenmenschlichen Kontakt erleben. Unabhängig von der dargestellten Wirkung von Bewegung auf die Neurotransmitterausschüttung entsteht Konsistenz, wenn es Therapeuten und Trainer vor, während und nach der Bewegungstherapie gelingt, die Grundbedürfnisse ihrer Patienten und Klienten positiv zu triggern. Dieses Gelingen stellt das alles entscheidende Fundament für eine positive Regulation der Dopamin- und Serotoninausschüttung dar. Dies gilt übrigens bei psychisch erkrankten Patienten genauso wie bei gesunden Klienten.
Erst wenn dieses Fundament stabil steht, können sich die durch Bewegungseinheiten erzielten Effekte wie ein echter Positiv-Turbo auf das affektive Befinden auswirken. Werden die Grundbedürfnisse von Patienten und Klienten von Bewegungstherapeut und -trainer dagegen missachtet oder gar verletzt, führt dies zur Inkonsistenz. verbunden mit den dargestellten negativen Konsequenzen. In diesem Fall bewirken die beschriebenen positiven Effekte einer Bewegungstherapie nicht mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Bewegungstherapeuten, aber auch Sporttrainer und -betreuer können auf der zwischenmenschlichen Ebene positive Akzente setzen, indem sie ihr Verhalten konsequent an den Grundbedürfnissen ausrichten.
Empfehlungen für eine erfolgreiche Trainer-Kunden-Beziehung
- Bindung positiv gestalten durch partnerschaftliche und transparente Prozessgestaltung, die von Akzeptanz, Wertschätzung, emotionaler Unterstützung, Vertrauenswürdigkeit und verständnisvoll-empathischer Zuwendung getragen wird.
- Kontrollerfahrungen fördern durch die adressatengerechte Gabe von fachlich unterstützenden Informationen und Erklärungen (im Sinne von Psychoedukation). Sowie die Förderung des Autonomie-Empfindens – gepaart mit der Ausstrahlung von Sicherheit und fachlicher, aber auch sozialer und kommunikativer Kompetenz.
- Lusterfahrungen ermöglichen durch eigene positive, einladende und entspannte Ausstrahlung, Lachen und humorvolle Beziehungsgestaltung, aber auch durch realistische Zuversicht, Förderung von Hoffnung und das Ermöglichen von Gemeinschaftserleben.
- Selbstwert erhöhen durch gemeinsame Erarbeitung und Benennung von realistischen, klaren und vom Klienten oder Patienten eindeutig bejahte Annäherungsziele in Kombination mit greifbaren Zwischenzielen und zu bewältigenden Handlungsplänen, die der Klient als durchführbar wahrnimmt. Das alles gepaart mit über den gesamten Veränderungsprozess hinweg anhaltender Zuwendung und positivem Feedback.
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Autor und Sportexperte: Gernot Emberger ist Sportpsychologe und Sportwissenschaftler. Er arbeitet als Mentaltrainer und psychologischer Berater mit Einzelpersonen, Gruppen und Teams aus dem professionellen Hochleistungssport und der Wirtschaft. Den Fokus legt er auf Leistungsförderung unter Berücksichtigung von Gesundheit und Wohlbefinden.
Literatur:
- Grawe, K.: Neuropsychotherapie, Göttingen, 2004.
- Schulte, D.: Therapie-Motivation. Göttingen, 2015.
- Sudeck, G.; Thiel, A.: Sport, Wohlbefinden und psychische Gesundheit.
- In: Schuler, J.; Wegner, M.; Plesse, H.: Sportpsychologie, 2020, S. 551–606.