Das Nervensystem trainieren – der medizinische Blickwinkel

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Das Nervensystem trainieren: Corona hat gezeigt, wie schnell sich unser Verhalten ändern kann – immer mehr Menschen entwickeln ein stärkeres Bewusstsein für ihre Gesundheit. Die Grenzen zwischen Gesundheit, Prävention und Fitness verschwimmen zunehmend; aus Gesundheits-Apps werden Fitness-Apps, Technologien aus dem medizinischen Bereich halten Einzug in den Fitnessbereich und verändern dabei die gesamte Branche.

Was ist Medical Fitness?

Unter dem Begriff „Medical Fitness“ oder auch „medizinische Fitness“ definiert die Deutsche Trainer Akademie die Schnittstelle zwischen Medizin, Ernährung und körperlicher wie mentaler Fitness. Oftmals wird Medical Fitness auch mit Synonymen wie „Medizinisches Fitnesstraining“, „Medizinisches Training“, „Präventionstraining“ oder „Gesundheitstraining“ unter dem Oberbegriff „Gesundheitssport“ zusammengefasst. Entscheidend ist beim Verständnis von Medical Fitness, dass die Gesundheit im Mittelpunkt steht.

Es geht hierbei also primär um Prävention oder Rehabilitation und nur sekundär um Performance. Dazu Dr. Veit Nordmeyer, Orthopäde und Unfallchirurg: „Schon 1997 hatte Prof. Klaus Jung an der Medizinischen Universität Mainz die Abteilung für Sportmedizin in ‚Abteilung für Sportmedizin, Rehabilitation und Prävention‘ umbenannt. Das zeigt den modernen Zugang, dass die allgemeine Bevölkerung und nicht nur Spitzensportler sportmedizinisch begleitet werden. Dadurch eröffneten sich Möglichkeiten für Forschung und Lehre seitens der Mediziner sowie ein großer Markt für entsprechende Produkte – vom Fitnessstudio über spezielle Trainingstherapien über Nahrungsergänzung etc.“

Kann man das Nervensystem trainieren?

Ein Bereich, der sich an dieser Schnittstelle in den letzten Jahren auch in Deutschland immer stärker herauskristallisierte, ist das neurozentrierte Training. Im Mittelpunkt dieses Konzepts stehen die ganzheitliche Betrachtung der menschlichen Leistungsfähigkeit und die Intaktheit der zentralen Bewegungssteuerung über das Gehirn. Die Grundlage des Konzepts: Bewegung auf einem tiefen neurologischen Level betrachten. Ausgehend von der Neuroathletik, die sich auf die Leistungssteigerung bei Sportlern konzentriert, schließt das neurozentrierte Training die Lücke zwischen medizinischer Grundversorgung und eigenständigem Training. Es geht beim neurozentrierten Training darum, die Leistungsfähigkeit des Bewegungssystems wiederherzustellen. Die Funktionen von Kreislauf, Atmung, Nervensystem und Stoffwechsel werden verbessert.

Um neuronale Steuerungsprobleme zu beheben, die oft die Ursache von Beschwerden sind, ist eine ausführliche Anamnese grundlegend. Wie die Eingangsanamnese beim Arzt oder Therapeuten, so muss auch im Training eine dezidierte Anamnese stattfinden. Anschließend kann individuell besprochen und erarbeitet werden, wie ein Trainingsplan aussehen kann und welche Schwerpunkte im neurozentrierten Training gesetzt werden. Dieser ganzheitliche Ansatz bindet das visuelle, das Gleichgewichts- und das propriozeptive System ein und sorgt für eine bessere Integration dieser Systeme.

Dr. Veit Nordmeyer: „Es lässt sich sagen, dass dies bereits in den Alltag eines großen Anteils der Bevölkerung eingedrungen ist. Seit Jahrzehnten beschäftigen sich immer mehr Menschen mit Fitness und dem Verbessern der eigenen Leistungsfähigkeiten. Mir als Orthopäden begegnen immer mehr Patienten mit Fragen zu Training, der Trainingsplanung und -steuerung sowie auch Überlastungs- und Trainingsschäden. Während das für den Einzelnen natürlich teilweise mit negativen Folgen einhergeht, ist es insgesamt jedoch eine erfreuliche Sache, dass sich die Menschen aktiv in der Lebensgestaltung mit Fitness beschäftigen. Dies begegnet den bekannten Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck und Osteoporose nachgewiesen wirksam.“

Was bringt es, das Nervensystem zu trainieren?

Laut Statista leidet in Deutschland jeder Zweite gelegentlich unter Rückenschmerzen. Das sind nicht immer akute Fälle, im Gegenteil. Die Betroffenen haben eher diffuse Symptome: Schulter-Nacken-Schmerzen oder Rückenschmerzen. Man muss hier klar unterscheiden: Es gibt die einen, die ab und zu nach einem langen Tag mal Verspannungen haben oder nach dem Sport Muskelkater verspüren. Und es gibt diejenigen, die seit Monaten und sogar Jahren und Jahrzehnten unter Schmerzen leiden. Sie werden von Arzt zu Arzt geschickt und keiner kann eine klare Diagnose erstellen. Letztere Personen sehe ich in meiner täglichen Arbeit. Sie sind verzweifelt, hilflos und auf der Suche.

Ein Problem, das ich dabei sehe: Der Mensch wird immer noch eindimensional betrachtet und nicht ganzheitlich. Unter „ganzheitlich“ verstehe ich das Betrachten des gesamten Menschen inklusive Nervensystem und Gehirn – also die Informationen aus Exterozeption, Interozeption und Propriozeption. Wir wissen dank der modernen Neurowissenschaften, dass Bewegung und Schmerzen im Gehirn entstehen. Großteils wird aber immer noch nur das Symptom betrachtet und nicht nach der wirklichen Ursache gesucht.

Wie trainiert man das Nervensystem?

Wie in der Medizin und in der Therapie, so braucht es auch im Training einen strukturierten Ansatz oder ein bestimmtes System. In der Therapie ist der Begriff „Systemische Therapie“ schon lange bekannt. Er bezeichnet in der somatischen Medizin die Behandlung des gesamten Organismus zur Bekämpfung einer Erkrankung und steht damit in Ergänzung zur lokalen Therapie, die sich nur auf einen Bereich konzentriert. Per definitionem ist ein System ein wissenschaftliches Schema, ein Lehrgebäude oder auch ein Prinzip, nach dem etwas gegliedert ist. Das zugrundeliegende System im neurozentrierten Training ist das Nervensystem. Es ist Teil des Organismus, der u. a. der Reizverarbeitung dient. Aufgegliedert in acht Ebenen, lassen sich systematisch alle Funktionsbereiche des menschlichen Organismus darstellen. Diese acht Ebenen, die es im Training zunächst zu analysieren gilt, um sie später zu trainieren oder zu rehabilitieren, sind:

  • Rezeptoren
  • Periphere Nerven
  • Rückenmark
  • Kleinhirn
  • Hirnstamm
  • Thalamus
  • Insula
  • Cortex

Das Test- und Re-Test-Verfahren

Aufbauend auf dieser Grundlage lässt sich im Training durch Test- und Re-Test-Verfahren genau erkennen, welche Bereiche aktiviert oder inhibiert werden müssen. Solche Test- und Re-Test-Verfahren dienen nicht nur der Kommunikation mit den Trainierenden, sondern auch der Überprüfung für den Trainer. Denn nur dann, wenn wie in der Medizin überprüft wird, ob sich Werte verbessern, stabilisieren oder verschlechtern, kann man Training dosieren wie Medikamente.

Aufbauend auf den o. g. acht Ebenen und dem Test- und Re-Test-Verfahren kann das neurozentrierte Training dann wie folgt die Lücke zwischen medizinischer Grundversorgung und dem eigenständigen Training schließen: Sobald die Trainierenden aus medizinischer und therapeutischer Sicht trainierbar sind, startet die Rehabilitation von Verletzungen. Das kann bspw. über die sensorische Rehabilitation von Narbengewebe erfolgen oder über eine Aktivierung der peripheren Nerven. Im zweiten Schritt wird die neuronale Re-Modulation angestrebt. Auf den unterschiedlichen acht Ebenen kann entsprechend der vorangegangenen Tests entschieden werden, welche Bereiche im Fokus stehen und welche Trainingsreize notwendig sind. Abschließendes Ziel ist immer die Wiederherstellung der Mobilität. Die Trainierenden sollen sich sicher und leistungsfähig fühlen, wobei Leistung nicht immer nur „höher, schneller und weiter“ bedeuten muss, sondern auch auf kognitiver Ebene und auf mentaler Ebene deutlich werden sollte.

Effizienz und Effektivität

Ist dieses Ziel im Training erreicht, wird der Fokus auf Effizienz und Effektivität gelegt. In Bezug auf Training bedeutet das:

  • perfekte Form der Bewegungsausführung,
  • dynamische Haltungsausrichtung,
  • synchronisierte Atmung,
  • Balance aus An- und Entspannung und
  • Rhythmus.

Das wohl immer wieder Wichtigste bei allen einzelnen Schritten ist die Kommunikation. Es geht darum, mit statt über die Trainierenden zu sprechen. Denn nur wer versteht, was im eigenen Körper vor sich geht, kann angemessen darauf reagieren. Daher ist auch die „Neuro Education“ ein großer Teil des neurozentrierten Trainings. Es handelt sich hierbei um die Wissensvermittlung und den Transfer angewandter Neurowissenschaften auf den Alltag der Trainierenden. Es geht dabei nicht darum, möglichst kompliziert das eigene Wissen zu präsentieren, sondern in angemessener Sprache Zusammenhänge zu erklären, Prioritäten zu besprechen und Wissen zu vermitteln. Dr. Veit Nordmeyer: „Es wäre allerdings gesamtgesellschaftlich wünschenswert, die Lücke zwischen vollständig untrainierten und übertrainierten Menschen zu schließen. Hierbei kann der neurozentrierte Ansatz, welcher keine besonderen Geräte benötigt, einen großen Anteil leisten.“

Ausblick

Besonders durch Corona beschleunigt, befinden sich die Gesundheits- und die Fitnessbranche an einem Wendepunkt. Big Data, sich verändernde Verbraucherpräferenzen und Kostenstrukturen sind nur einige der vielen komplexen Faktoren, die zukünftig zu Chancen und Herausforderungen werden. Wird die Technisierung, das Messen und Sammeln von Daten, das Monitoring und Tracking zum „Quantified Self“ führen? Und wie schafft man den Spagat, bei alldem den Menschen hinter den Daten und Analysen noch wahrzunehmen?

Der Markt ist groß genug für eine Vielzahl an Anbietern und je mehr sich deren Angebote ergänzen und ineinandergreifen, umso größer kann der Mehrwert für die Kunden sein. Es gibt am Ende nicht nur ein System, das helfen kann. Deshalb muss es unterschiedliche Lösungsansätze geben für unterschiedliche Personen und ihr individuell arbeitendes Nervensystem. Das neurozentrierte Training bietet hier einen innovativen und ambitionierten Ansatz, der sich zukünftig noch differenzieren und spezialisieren wird.

Unser Tipp aus der Trainingsworldredaktion

Das Buch zum Thema von unserer Autorin Luise Walther!

Luise Walther erklärt anschaulich die komplexen und faszinierenden Zusammenhänge zwischen Augen, Balance, Bewegung und Atmung und zeigt mit einfachen Beispielen und Übungen, wie wir sofort aktiv werden und unser Gleichgewicht trainieren können – in jedem Alter.

Ein verbessertes Gleichgewicht wirkt sich positiv auf unsere Körperhaltung und unsere Mobilität aus und wir können uns wieder frei und ausgeglichen bewegen.

Über die Autorin

Mit ihrem Neurozentrierten Training sorgt Luise Walther für Aufsehen in der Gesundheits- und Fitnessbranche. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Trainingsprozessen, um Schmerzen zu reduzieren und Bewegungsabläufe zu optimieren.

Die Spezialistin für Rehabilitation, Verletzungsprophylaxe und Performance- Steigerung stellt die ganzheitliche Betrachtung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den Vordergrund. Die zentrale Grundlage ihrer neuroathletischen Arbeit ist die Erkenntnis, dass Schmerzen im Gehirn entstehen.

Aus diesem Grund, so die Überzeugung von Luise Walther, muss Training radikal neu gedacht und umgesetzt werden. Ihre Expertise und internationale Qualifikation besitzen deutschlandweit nur einige wenige Trainer, weshalb namhafte Unternehmen und Medien auf ihre Expertenmeinung zählen. Auch das begeisterte Feedback ihrer Kunden gibt ihrer langjährigen Arbeit und Erfahrung recht.

Autorin: Luise Walther

Die Berliner Personal Trainerin arbeitet an der Schnittstelle Medizin-Fitness. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Reha- und Trainingsprozessen mit Fokus auf Schmerzreduzierung und Bewegungsoptimierung ihrer Kunden. www.neurozentriertestraining.de

Dr. Veit Nordmeyer, MBA ist Oberarzt der Klinischen Abteilung für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Tulln. Er ist Spezialist für Orthopädie und Unfallchirurgie. Besonders seine ganzheitliche Betrachtung und interdisziplinäre Arbeitsweise hilft Patienten, schnell und zielgerichtet ihre körperliche Aktivität und Belastbarkeit wiederherzustellen, zu erhalten und wenn möglich zu verbessern. www.tulln.lknoe.at

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Über den Autor

Luise Walther

Luises Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Trainingsprozessen, um Schmerzen zu reduzieren und Bewegungsabläufe zu optimieren. Die Spezialistin für Rehabilitation, Verletzungsprophylaxe und Performance-Steigerung stellt die ganzheitliche Betrachtung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den Vordergrund. Die zentrale Grundlage ihrer neuroathletischen Arbeit ist die Erkenntnis, dass Schmerzen im Gehirn entstehen.

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