Verspannungen und Muskelbeschwerden kommen bei Trainierenden so oft vor, dass sie oft schon als „normal“ hingenommen werden. Yassin Jebrini zeigt, wie wir den chronisch hohen Muskeltonus durch neurozentrierte Trainingsinterventionen reduzieren können.
Inhaltsverzeichnis
- Wie normalisiert man den Muskeltonus?
- Woher kommt ein hoher Muskeltonus?
- Was reguliert den Muskeltonus?
- Wie entscheide ich, was förderlich ist?
- Übungen zum Senken des Muskeltonus
- Fazit
Wie normalisiert man den Muskeltonus?
Ein chronisch hoher Muskeltonus lässt sich nicht einfach durch Faszientraining, Dehnübungen oder Entspannungstechniken aus der Welt schaffen. Natürlich können diese Techniken und Methoden kurzfristig zu einer Linderung beitragen, doch wirklich zielgerichtet scheinen Therapeuten und Trainingsexperten diese oftmals nicht anzuwenden. Auch scheint unklar, welche Maßnahme wie und bei wem hilft. Um einen adäquaten Therapieansatz zu entwickeln, muss die Wirkungsweise der zentralnervösen Instanzen verstanden und berücksichtigt werden. Schließlich entsteht ein dauerhaft erhöhter Muskeltonus nicht aus heiterem Himmel – es gibt Ursachen dafür! Das Ziel dieses Artikels ist es, die Entstehung von chronisch hohem Muskeltonus auf neurologischer Ebene aufzuzeigen und fernab der Mainstream-Konzepte Ansätze vorzustellen, die einen positiven Effekt auf den Spannungszustand der Muskulatur haben.
Woher kommt ein hoher Muskeltonus?
Bei der Entstehung eines chronisch hohen Muskeltonus spielt das Sicherheitsverständnis unseres zentralen Nervensystems (ZNS) im Hier und Jetzt eine zentrale Rolle. Permanent beantwortet das ZNS die Frage: Ist das, was ich hier mache, sicher oder bedrohlich? Maximale Sicherheit und das Garantieren unseres Überlebens haben dabei sowohl in Ruhe als auch in Bewegung die höchste Priorität.
Die Beurteilung der Sicherheit wird auf Grundlage von sensorischen Informationen vorgenommen, die wir aus unseren Sinnesorganen erhalten. Haben die visuellen Informationen unserer Augen, die propriozeptiven Informationen aus unserem aktiven Bewegungsapparat, die taktilen Informationen unserer Haut, die Gleichgewichtsinformationen aus unserem Innenohr etc. eine geringe Datenqualität, stuft unser ZNS den aktuellen Zustand als unsicher ein. Die Einschätzung der aktuellen Situation als unsicher kann schließlich zu Bewegungseinschränkungen, muskulären Verspannungen oder Ähnlichem führen. Wir können die geplante Handlung dann nicht in vollem Umfang ausführen.
Da die Einschätzung des Sicherheitslevels nicht im bewussten Bereich unseres Gehirns liegt, ist dieser Prozess für uns rational nicht immer nachvollziehbar. Die Einstellung des Muskeltonus hat dementsprechend nichts mit rationalem Denken zu tun und es ist uns daher auch nicht möglich, durch reine Denkprozesse den Muskeltonus zu senken. Eher müssen wir den zu hohen Muskeltonus als Schutzmechanismus unseres ZNS verstehen, der durch eine wahrgenommene Bedrohung entstanden ist.
Was reguliert den Muskeltonus?
Um den Regler auf dem Sicherheitskontinuum unseres ZNS von unsicher auf sicher zu schieben, müssen wir den sensorischen Input und die Verarbeitung des sensorischen Inputs durch das Gehirn verbessern. Konträr zu anderen Therapiekonzepten beschäftigen wir uns vordergründig somit nicht mit den Muskeln an sich. Stattdessen beschäftigen wir uns mit den Gehirnarealen, die direkt mit der Regulation der muskulären Spannung in Verbindung stehen. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang neben anderen Hirnarealen insbesondere der Hirnstamm, der aus Mittelhirn, Pons und Medulla besteht. Außerdem das Kleinhirn, das für die Bewegungskontrolle, die Koordination und eben auch für den Muskeltonus mitverantwortlich ist.
Ein Großteil der Maßnahmen, die wir zur Reduktion eines übermäßig hohen Muskeltonus ergreifen, sollte somit immer auch eine direkte Aktivierung dieser Bereiche bewirken. Grundsätzlich kommen dafür insbesondere spezifische Atem- und Gleichgewichtsübungen infrage. Da beide Systeme für unseren Organismus überlebensnotwendig sind, führen bereits kleinste Defizite zu entsprechenden Schutzmaßnahmen durch das ZNS. Stürze oder eine suboptimale Sauerstoffversorgung sind im Kampf um Sicherheit keine guten Optionen für unser ZNS. Wenn wir beispielsweise suboptimale Atemmuster haben, kann es zu einer veränderten Aktivität in den Atemzentren kommen, die reflektorisch im Hirnstamm gesteuert wird. Sind die sensorischen Informationen zu schwammig, wird der Muskeltonus hochreguliert.
Das Gleichgewichtsorgan hat ebenfalls direkte Verbindungen zur Pons und in die Medulla: Wenn hier ungenaue sensorische Informationen angeliefert werden, weil die Rezeptoren suboptimal arbeiten, kann das ZNS einen höheren Muskeltonus im Körper festlegen, um sich die fehlende Sicherheit zurückzuerobern. Ein generell hoher Muskeltonus hilft nämlich erst einmal dabei, nicht umzufallen und eine reflektorische Stabilität innerhalb einer Bewegung zu gewährleisten. Zusätzlich wird dadurch der Bewegungsradius eingeschränkt, was teilweise wiederum zu einem geringeren Verletzungspotenzial führt.
Wie entscheide ich, was förderlich ist?
Wir können nicht einfach hoffen, dass sich Verspannungen lösen. Wir müssen prüfen, wie wir auf die angewendeten Maßnahmen reagieren. Dazu brauchen wir Assessments. Diese Momentbewertungen sind Tests, die zeigen, wie das ZNS auf einen Trainingsreiz reagiert. Assessments funktionieren, weil unser Gehirn und das ZNS direkt und unmittelbar auf jeden gegebenen Reiz, also auch auf jede Übung, die wir ausführen, reagieren. Die Durchführung sogenannter Assessments ist simpel. Jeweils vor und nach einem motorischen oder sensorischen Stimulus führen wir dasselbe Assessment durch und vergleichen die Ausführungsqualität dieser Assessments miteinander.
Die Ergebnisse dieser Tests liefern die notwendigen Informationen zur individuellen Eignung von Trainingsübungen und sind zwischen den Übungen in nur wenigen Sekunden durchführbar. Wichtig ist, dass die Assessments immer identisch ausgeführt werden, um eine Vergleichbarkeit zu garantieren. Sich in diesem Kontext anbietende Assessments sind Tests zur Beweglichkeit. Wir konzentrieren uns auf diese Art der Tests, da die maximale Range of Motion bei hohem Muskeltonus in der Regel eingeschränkt ist. Beispielhaft kann also das Ausmaß der Abduktion/Flexion in der Schulter, eine Ganzkörperrotation oder die Rumpfvorbeuge als Test ausgewählt werden.
Bei all diesen Assessments gilt: Eine höhere Range of Motion nach der jeweiligen Übung bedeutet ein positives Re-Assessment. Im Folgenden werden die verschiedenen Trainingsansätze zur Reduktion des Muskeltonus vorgestellt.
Aktivierung des Kleinhirns und des Mittelhirns über die Atmung
Durch die Airhunger-Übung steigern wir unsere CO2-Akkumulationstoleranz. Je höher diese Toleranzschwelle gegenüber dem CO2 ist, desto seltener löst unser Atemreflex aus, der an den CO2-Gehalt im Blut geknüpft ist. Durch diese Übung nähern wir uns also von der häufigen und flachen Atmung einer tieferen und ruhigeren Atemfrequenz an. Durch die direkte Aktivierung des Mittelhirns und des Kleinhirns aktivieren Airhunger-Übungen diejenigen neuronalen Strukturen, die einen hohen Muskeltonus verursachen können, weil dort die Rezeptoren und Messinstrumente sitzen, die u. a. den CO2-Anstieg messen.
AIRHUNGER
Atme tief aus und führe im Anschluss eine Bewegung so oft durch, bis du das Gefühl hast, wieder atmen zu müssen. Versuche, so viele Wiederholungen der Bewegung zu machen, wie es dir möglich ist. Danach versuchst du, innerhalb weniger Atemzüge durch die Nase die Kontrolle über die Atmung wiederzuerlangen. Hierbei sollen weder Schwindelgefühle noch Kopfschmerzen auftreten.
Aktivierung der Medulla und des Kleinhirns über die Atmung
Durch die Zwerchfellatmung im Stehen erreichen wir, dass das Zwerchfell maximal wandert. Bei der Einatmung zielen wir darauf ab, das Zwerchfell ganz nach unten zu dehnen und bei der Ausatmung ganz nach oben zu bewegen. Manchmal macht es dabei Sinn, die Zwerchfellatmung auf einer Seite stärker zu fokussieren als auf der anderen. Gehe dazu leicht in die Knie, neige deinen Oberkörper zur Seite und führe eine leichte Rotation aus. Ich persönlich halte die Zwerchfellatmung für nahezu unverzichtbar. Gerade wenn der Trainierende zu keiner Bauchatmung fähig ist, integriere ich die Zwerchfellatmung regelmäßig in das Training.
ZWERCHFELLATMUNG IM STEHEN
Kippe dein Becken posterior und lege die Hände auf deinen Bauch. Versuche nun – bildlich gesprochen –, deine Hände nach vorn zu atmen, während das Becken in o. g. Position verharrt. Atme dabei vollständig ein und durch den offenen Mund kraft- und geräuschvoll wieder aus. Je kraftvoller und länger die Ausatmung erfolgt, desto höher ist auch der gesetzte Stimulus. Falls dir diese Übung in der Form nicht gelingt, kannst du die Zwerchfellatmung auch im Liegen ausführen. Denke an dieser Stelle einfach ganz pragmatisch.
Aktivierung der Pons und des Kleinhirns über das Gleichgewichtsorgan
Das Utriculus-Organ misst horizontale Beschleunigungen vorwärts, seitwärts und rückwärts. Je besser das Gehirn die Beschleunigungen und Lageveränderungen des Körpers wahrnehmen kann, desto besser kann sich der Körper während der Bewegung stabilisieren. Hierbei müssen vor allem die vestibulären Trakte und dabei insbesondere der laterale Trakt als Instanz erwähnt werden. Diese Gleichgewichtsbahnen, die im Hirnstamm starten und sich an den Informationen des Gleichgewichtsorgans orientieren, sind an der Regulation des Muskeltonus in hohem Maße beteiligt. Gerade der laterale Trakt wird durch die Utriculus-Aktivierung angesprochen. Eine Verbesserung der horizontalen Stabilisationsleistung hat somit massiven Einfluss auf unsere Muskeltonusregulation. Weitere Varianten, um den Utriculus durch seitliche Bewegungen zu aktivieren, sind seitliche Ausfallschritte.
Fazit
Die hier vorgestellten Assessments und Trainingsübungen zur Reduktion des Muskeltonus sind der breiten Öffentlichkeit zumeist nicht bekannt. Selbst viele Trainer und Therapeuten haben von diesen neurozentrierten Strategien noch nie etwas gehört. Die klassischen Interventionen, die in gewissem Maße alle ihre Daseinsberechtigung haben, müssen aus diesem Grund unbedingt um die hier vorgestellten Methoden ergänzt werden. Wenn wir an dieser Stelle die an der Muskeltonusregulation beteiligten Hirnareale in eine Therapie einfließen lassen, den Praxistransfer sicher meistern und in den Übungen insgesamt strukturiert vorgehen, finden wir die Lösung gegen Verspannungen und Muskelschmerzen fast immer. Schließlich erzeugt der Körper einen hohen Muskeltonus auf Grundlage von schwammigen oder fehlenden sensorischen Informationen.
Unser Bestreben muss es also sein, diese sensorische Informationslage den Bedürfnissen und dem neuronalen Profil entsprechend aufzuwerten. Es macht in diesem Zusammenhang keinen Sinn, nur an den Muskel zu denken. Muskeln suchen sich ihren Tonus schließlich nicht selbst aus. In den meisten Fällen ist es zielführender, an den Instanzen zu arbeiten, die für die Regulation auf höherer Ebene zuständig sind.
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Autor: Yassin Jebrini
Der Sportwissenschaftler M.A. und Z-Health-Absolvent arbeitet als Neuroathletiktrainer mit Profi- und Freizeitsportlern. Zusätzlich ist er als Referent tätig und bildet Trainer in Neuroathletik aus.