Gestörtes Essverhalten: In Deutschland haben etwa 14 von 1 000 Frauen und 5 von 1 000 Männern eine Essstörung. Am häufigsten sind Mädchen und junge Frauen betroffen. Unterschieden werden Essstörungen in drei Hauptformen: Magersucht, Bulimie und unkontrollierte Essanfälle. Prof. Dr. Anja Hilbert erklärt im Interview u. a., welche Therapieformen es gibt und warum gesellschaftliche Aufklärungsarbeit so wichtig ist.
Inhaltsverzeichnis
- Welche Formen von Essstörungen gibt es?
- Wie entsteht ein gestörtes Essverhalten?
- Bedarf es mehr gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit?
- Wie normalisiere ich ein gestörtes Essverhalten wieder?
- Kann Sport in die Therapie integriert werden?
- Wie bedingt Sport ein gestörtes Essverhalten?
- Tipps für Fitnesstrainer
Welche Formen von Essstörungen gibt es?
Prof. Dr. Anja Hilbert: Zu den Essstörungen zählen im Wesentlichen die durch starke Nahrungseinschränkung und Untergewicht gekennzeichnete Anorexia Nervosa – „Magersucht“ –, die Bulimia Nervosa – „Ess-Brech-Sucht“ – und die Binge-Eating- oder Essanfallsstörung. Für letztere Essstörungen sind wiederkehrende Essanfälle charakteristisch, bei denen die Betroffenen große Nahrungsmengen zu sich nehmen und dabei das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr Essverhalten zu verlieren. Während Betroffene mit Bulimia Nervosa regelmäßig unangemessene Maßnahmen zur Gewichtskontrolle einsetzen, z. B. Erbrechen selbst herbeiführen, ist dies bei Betroffenen mit Binge-Eating-Störung nicht der Fall – Übergewicht und Adipositas bzw. Fettleibigkeit sind die Folgen.
Wie entsteht ein gestörtes Essverhalten?
Prof. Dr. Anja Hilbert: Wichtige neuere Erkenntnisse stammen aus der Molekulargenetik, die für die Anorexia Nervosa kürzlich acht Genorte identifiziert hat, was nahelegt, dass bestimmte einzelne Gene nicht nur für Essstörungsverhaltensweisen wie eine erhöhte körperliche Aktivität kodieren, sondern auch für andere mit dieser Essstörung verbundene psychische und körperliche Erkrankungen sowie Auffälligkeiten in Stoffwechsel und Körpergewichtsregulation. Diese Forschung weist darauf hin, dass ein breiteres Symptommuster bei Anorexia Nervosa genetisch mitbedingt ist als zuvor angenommen.
Weitere wichtige neuere Erkenntnisse stammen aus den Neurowissenschaften. Hier wurden beispielsweise für die Binge-Eating-Störung neurobehaviorale Veränderungen in der Verarbeitung störungsrelevanter Reize wie Nahrungsbilder herausgearbeitet. Zusammen mit verhaltensorientierter Forschung zeigt sich, dass Menschen mit Binge-Eating-Störung die Tendenz haben, stark auf Nahrungsreize anzusprechen und leicht ein Verlangen danach zu entwickeln, während gleichzeitig die kognitive Kontrolle über diese Impulse eingeschränkt ist, was die Auslösung von Essanfällen begünstigen kann.
Bedarf es mehr gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit über gestörtes Essverhalten?
Prof. Dr. Anja Hilbert: In vielerlei Hinsicht ist eine größere gesellschaftliche Aufklärungsarbeit wichtig. Beispielsweise wissen wir, dass Essstörungen häufig im Jugend- oder im frühen Erwachsenenalter beginnen, aber bereits im Kindesalter Symptome auftreten können. So wurden bestimmte Formen von Essanfällen im Kindesalter als Risikofaktoren für die Binge-Eating-Störung ab dem Jugendalter identifiziert. Trotz des frühen Erkrankungsbeginns gibt es jedoch nur wenige Therapieansätze für Kinder und Jugendliche mit der Binge-Eating-Störung.
Viele Eltern, aber auch betroffene Kinder und Jugendliche wissen zum Teil nichts von der Essstörung und es fehlen speziell für diesen Bereich ausgebildete Therapeuten. D. h., viel gesellschaftliche Aufklärung ist notwendig, um gerade über die frühen Essstörungen zu informieren und geeignete Behandlungsmöglichkeiten zu schaffen. Auch sind die Essstörungen mit einem starken gesellschaftlichen Stigma belegt, das den Betroffenen selbst die Schuld für ihre Störung in die Schuhe schiebt. Dieses Stigma behindert einen gesundheitsförderlichen Umgang mit der Essstörung zusätzlich – darüber sollte aufgeklärt werden.
Wie normalisiere ich ein gestörtes Essverhalten wieder?
Prof. Dr. Anja Hilbert: Die am besten belegte Therapieform ist die Kognitive Verhaltenstherapie. Dabei werden die Faktoren behandelt, die die zentralen Symptome, wie z. B. Essanfälle bei der Bulimia Nervosa oder der Binge-Eating-Störung, aufrechterhalten. So dient ein Ernährungsmanagement zum Aufbau eines gesunden, regelmäßigen Essverhaltens, das vor Essanfällen schützt. Bei negativem Körperbild wird am Aufbau von Selbst- und Körperakzeptanz gearbeitet und bei vielen Betroffenen ist es wichtig, an der Emotionsregulation sowie am Umgang mit Stress anzusetzen, damit negative Gefühle und Stress die Essanfälle nicht weiter auslösen.
Andere Therapieformen haben in wenigen Studien auch Wirksamkeit gezeigt, z.B. die Interpersonelle Psychotherapie bei der Bulimia Nervosa oder der Binge-Eating-Störung sowie die Fokale Psychodynamische Therapie bei Anorexia Nervosa, sind aber nicht so verbreitet. Für medikamentöse Therapien bei Essstörungen besteht keine Indikation. Neuere Therapieansätze sind zum Teil neurowissenschaftlich fundiert.
Kann Sport in die Therapie integriert werden?
Prof. Dr. Anja Hilbert: Besonders bei der Binge-Eating-Störung ist es aufgrund des erhöhten Körpergewichts wichtig, ein regelmäßiges Bewegungsverhalten aufzubauen, um die psychische Ausgeglichenheit zu stärken und das Gewichtsmanagement zu unterstützen. Nicht nur Sport ist dabei relevant, sondern auch die Alltagsbewegung sollte gefördert werden. Bei den kompensatorischen Essstörungen wie der Bulimia Nervosa und Anorexia Nervosa ist hingegen Vorsicht geboten, denn die Betroffenen setzen Sport häufig in einer dysfunktionalen Weise zur Gewichtskontrolle ein: Ein übermäßiges, „getriebenes“ Sporttreiben ist Bestandteil der Erkrankung. Hier geht es eher darum, das übermäßige Sporttreiben abzubauen und eine regelmäßige Bewegung aufzubauen, bei der Gesundheit und Wohlbefinden im Mittelpunkt stehen und nicht die Figur und die Essstörung.
Kann im umgekehrten Fall Sport ein gestörtes Essverhalten bedingen?
Prof. Dr. Anja Hilbert: Das ist richtig. Gerade im Leistungssport bestehen bestimmte Körperideale, z.B. extreme Schlankheit beim Ballett, ein bestimmter Muskelaufbau in der Leichtathletik – und die Sportler erfahren Druck, um diesem Ideal zu entsprechen und Höchstleistungen zu erbringen. Daher gilt Leistungssport auch als Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung. Bei bestehenden Essstörungen wie der Anorexia Nervosa gehört das extreme, „getriebene“ Sporttreiben aus Figur- und Gewichtsgründen zum Störungsbild und trägt zur Aufrechterhaltung bei.
Was sollten Sport-/ Fitnesstrainer im Umgang mit essgestörten Kunden beachten?
Prof. Dr. Anja Hilbert: Sport- und Fitnesstrainer sollten berücksichtigen, dass eine starke Leistungsorientierung im Sport bei vulnerablen Personen mit Figurunzufriedenheit und geringem Selbstwertgefühl dazu führen kann, die Freude an der Bewegung zu verlieren und in eingeschränkter Weise beim Sport auf Leistung und bestimmte Körpermerkmale zu fokussieren, z.B. Schlankheit, Körperfettanteil, Muskelaufbau. Daher sollte gerade im Freizeitbereich das Augenmerk auf Freude, Gesundheit und Wohlbefinden gelegt werden, weniger auf die Leistung. Bei Menschen mit Übergewicht und bei „Couchpotatoes“ geht es auch darum, jedoch sollten das Trainingsniveau und die Stärkung regelmäßiger Bewegung im Blick behalten werden. Insgesamt ist es, denke ich, wichtig, sich über den komplexen Zusammenhang zwischen Sport und Essstörungen im Klaren zu sein – übermäßiger Leistungsdruck ist zumeist fehl am Platz.
Erschienen in der body LIFE
Die Fachzeitschrift body LIFE ist das führende Fachmagazin für Inhaber und Manager großer, mittlerer und kleiner Fitness-Anlagen jeglicher Art. Es enthält eine professionell abgestimmte Vielfalt an Artikeln versierter Fachautoren zu verschiedenen Themen:
- Business & Best Practice
- aktuelle und hilfreiche Informationen aus der Branche,
- Infos über den Markt, über Produkte und Konzepte,
- Medical Fitness
- Training.
Die body LIFE gibt es seit über 30 Jahren. Seit jeher erfährt die body LIFE von ihrer treuen Leserschaft größte Aufmerksamkeit und höchsten Zuspruch.
Interview mit: Anja Hilbert, Universitätsklinikum Leipzip, Forschungsbereich Verhaltensmedizin