Essstörungen sind nicht nur schwerwiegende psychische Erkrankungen, sondern führen meist auch zu chronischen physischen Erkrankungen. Sie beeinflussen damit neben der mentalen auch die körperliche Ebene der Betroffenen und ihres Umfelds.
Inhaltsverzeichnis
- Neurologische Aspekte von Essstörungen
- Wer ist besonders anfällig für Essstörungen?
- Was für Essstörungen gibt es?
- Beteiligte Gehirnbereiche bei Essstörungen
- Welche Therapie hilft bei Essstörungen?
- Neurologische Begriffe
- Fazit
Eine neue Sichtweise: neurologische Aspekte von Essstörungen
Essstörungen gehen oftmals mit neurologischen Veränderungen von Gehirnstrukturen einher. Studien haben gezeigt, dass bei Betroffenen im Vergleich zu gesunden Probanden bspw. in der Insula (Inselrinde) Abweichungen auftreten. Welche Möglichkeiten gibt es, hier individuelle Reize zu setzen und Essstörungen nicht mehr nur aus der psychologischen, sondern auch aus der neurologischen Perspektive zu betrachten? In diesem Artikel soll es nicht um eine diagnostische oder symptomatische Expertise gehen, die Fachärzten, Psychologen und Psychiatern vorbehalten ist. Es geht vielmehr um eine neue Sichtweise und eventuell neue Möglichkeiten der Behandlung.
Wer ist besonders anfällig für Essstörungen?
Der steigende technologische, neuro- und bio-psychosozial-wissenschaftliche Fortschritt ermöglicht ständig neue Erkenntnisse. Besonders die fachübergreifende und klinisch angewandte Forschung liefert Konzepte und Modelle, um Essstörungen zu erklären und Behandlungsansätze zu bieten. Das Wissen um die neurobiologischen, physiologischen und psychologischen Mechanismen ist notwendig, um hier ein Verständnis zu schaffen. Aktuell geht man von unterschiedlichen Schlüsselfaktoren aus, die Essstörungen bedingen können:
- genetische oder erfahrungsbedingte prädisponierende Faktoren,
- dysfunktionale Systeme zur Gefühlsverarbeitung und -regulierung,
- übermäßige Verletzlichkeit,
- Überzeugungen vom „gefürchteten Selbst“,
- Hungern als maladaptiver physiologischer Gefühlsregulierungsmechanismus,
- maladaptive psychologische Bewältigungsmodi,
- maladaptives Sozialverhalten,
- unerfüllte physische und psychologische Grundbedürfnisse.
All diese Faktoren können eine Essstörung auslösen und aufrechterhalten und sind damit auch Anhaltspunkt für Therapieansätze. Die Themen „Vertrauen“, „emotionale Sicherheit“ und „Selbstakzeptanz“ sind daher in jeder Behandlungsform essenziell. Aktuell steht das Zusammenspiel aus unerfüllten physischen und psychischen Bedürfnissen im Fokus von Therapieansätzen. Der Wissenschaftler C. Munro spricht z. B. vom „gefürchteten Selbst“ –der Furcht davor, zu dick, zu bedürftig oder inakzeptabel zu sein oder zu werden. Das treibt Betroffene dann zu überkompensatorischem Verhalten und hinzu einem „essgestörten Selbst“.
Was für Essstörungen gibt es?
Essstörungen können vielseitig und in ihrer Ausprägung unterschiedlich sein. Die bekanntesten Essstörungen sind Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge Eating, vermeidend-restriktive Essensaufnahme, das Pica-Syndrom und die Ruminationsstörung. J. Treasure beschreibt 2020 in einer Untersuchung „Essstörungen als behindernde, tödliche und kostspielige psychische Störungen, die die körperliche Gesundheit erheblich beeinträchtigen und das psychosoziale Funktionieren stören“. Das geht einher mit einer gestörten Einstellung zu Körpergewicht, Körperform und Essen. Besonders Veränderungen im Ernährungsumfeld spielen eine immer größere Rolle, weshalb Essstörungen in den letzten 50 Jahren zugenommen haben.
Beteiligte Gehirnbereiche bei Essstörungen
2013 fanden G. K. Frank et al. in einer Studie anhand potenzieller Biomarker heraus, dass es bei Essgestörten Strukturveränderungen im Gehirn gibt. Dazu verglichen die Wissenschaftler anorektische, bulimische und genesene Patientinnen mit einer gesunden Kontrollgruppe. Es zeigte sich ein erhöhtes Volumen der grauen Substanz besonders im Bereich des medialen orbifrontalen Cortex, dem Gyrus rectus. Dieser Bereich ist u. a. für das Geschmacksempfinden zuständig. In anderen Hirnarealen zeigen sich bspw. Anorexie und Bulimie: erhöhtes Volumen der grauen Substanz in der antero-ventralen Insula rechts bei Anorexie, links bei Bulimie. Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigte sich zudem ein verringertes Volumen des dorsalen Striatums und ein reduziertes Volumen der weißen Substanz in der rechten Temporal- und Parietalregion.
Es gibt also nachweislich Veränderungen in den Hirnstrukturen und in neuronalen Verschaltungen. Diese sind verantwortlich für die Bewertung von Geschmack und Belohnung. Das dorsale Striatum z. B. ist Teil des Gewöhnungssystems. Es steuert gewohnheitsmäßige Handlungen, die nicht dem bewussten Willen unterliegen. Bei gesunden Menschen wird dieser Bereich bei der Nahrungsauswahl nicht aktiviert. Sie entscheiden bewusst, was, wann und wie viel sie essen wollen. Bei Essgestörten zeigte sich dieser Bereich in fMRT-Aufnahmen aktiviert, was darauf schließen lässt, dass die Betroffenen keine bewusste Entscheidung treffen können, was, wann und wie viel sie essen. Sie haben damit keine Kontrolle über die Nahrungsauswahl und -menge.
Welche Therapie hilft bei Essstörungen?
Foerde konnte zudem nachweisen, dass zwischen dem dorsalen Striatum und dem dorsolateralen präfrontalen Cortex eine vermehrte Kommunikation stattfindet. Der dorsolaterale präfrontale Cortex ist Teil des Entscheidungszentrums. Die Forscher gehen davon aus, dass das dorsale Striatum dem dorsolateralen präfrontalen Cortex seinen Willen aufzwingt.In einer Metastudie haben Borden et al. 2020 eine umfassende Überprüfung von Yoga und Prävention in der Behandlung von Essstörungen betrachtet. Die Ergebnisse von Yoga-Interventionen im Vergleich zu den Kontrollbedingungen waren:
- geringe signifikante Wirkung auf die globale Psychopathologie der Essstörung,
- mäßige bis große Wirkung auf Binge Eating und Bulimie,
- geringe Wirkung auf das Körperbild,
- keine statistisch signifikante Auswirkung auf das Essverhalten in beiden Richtungen.
Die Forscher gehen daher davon aus, dass Yoga ein wirksamer Ansatz für die Prävention und Behandlung von Essstörungen sein könnte. Andere Studien weisen auf den Zusammenhang von Yoga-Interventionen und Achtsamkeitsübungen hin. Tosca D. Braun et al. betrachteten in ihrer Arbeit das Internalized Weight Stigma (IWS; verinnerlichtes Gewichtsstigma), das mit der Entwicklung von Stress und ungesundem Essverhalten in Verbindung gebracht wird. Das Ergebnis der Studie unterstützt die Hypothese, dass achtsames Yoga beigestressten Erwachsenen mit schlechter Ernährung intuitives Essen fördern und das IWS reduzieren kann. Hier müssen jedoch weitere kontrollierte Studien die Kausalität und den zeitlichen Zusammenhang untersuchen, um relevante Zusammenhänge zu erforschen.
J. Warren et al. untersuchten 2017 in einer strukturierten Literaturübersicht die Rolle von Achtsamkeit, achtsamem und intuitivem Essen bei der Ver-änderung des Essverhaltens. Ihre Ergebnisse:
- Am wirksamsten bei Essanfällen, emotionalem Essen und Essen als Reaktion auf äußere Reize.
- Keine überzeugenden Belege bei Gewichtskontrolle.
- Verhinderung einer Gewichtszunahme.
- Bei übergewichtigen und fettleibigen Personen wurde eine verringerte Nahrungsaufnahme festgestellt.
- Evidenzbasis für intuitives Essen bisher begrenzt.
Achtsamkeit erhöht das Bewusstsein für die Innenwahrnehmung und schafft einen Gegenpol zu den äußeren Anreizen des Essens. Damit haben sowohl Achtsamkeit als auch achtsames Essen das Potenzial, bei Essstörungen therapeutisch einzugreifen.
Neurologische Begriffe
Weiße Substanz: Nervengewebe des zentralen Nervensystems mit myelinierten Axonen, besteht überwiegend aus Leitungsbahnen. Sie ist verantwortlich für die Weiterleitung der Signale im zentralen und peripheren Nervensystem.
Graue Substanz: Besteht im Vergleich zur weißen Substanz vorwiegend aus Nervenzellfortsätzen und hat wenig myelinisierte Axone.
Orbifrontaler Kortex: Bereich der Großhirnrinde direkt über der Augenhöhle (Orbita), ist Teil des Assoziationscortex. Spielt eine wichtige Rolle bei der Bewertung emotionaler Reize und ist entscheidend für erlernte Emotionen. Erhält Input aus allen sensorischen Modalitäten (visuell, taktil, auditiv etc.) sowie von viszeralen Zentren(Hunger, Durst, etc.).
Insula: Auch Inselrinde genannt, zählt zu den fünf Großhirnlappen und ist Teil des vegetativen Nervensystems. Über Faserverbindungen direkt mit dem auditiven, somatosensorischen, motorischen und limbischen System verbunden sowie mit Thalamus und Hypothalamus. Dient hauptsächlich der Integration der unterschiedlichen Reize: Verarbeitung olfaktorischer, gustatorischer Informationen, von Emotionen, viszerosensiblen Funktionen sowie Sensomotorik, Schmerzverarbeitung und Kognition.
Dorsales Striatum: Eingangsstation der Basal-ganglien, die zum Großhirn gehören. Neuronale Verschaltung von Motivation, Emotion, Kognition und Bewegungsverhalten. Verknüpfung der Umgebungsreize einer bestimmten Situation mitentsprechender Reaktion.
Fazit
Weitere Forschungsergebnisse werden hoffentlich zukünftig die Unsicherheiten im Umgang mit Patienten mit Essstörungen beseitigen. Es werden offene Forschungsfragen beantwortet und mit Sicherheit neue Forschungsfragen aufkommen, neue Behandlungsmethoden gefunden und sich vermutlich auch neue Herausforderungen ergeben. Gesunde Lebensgewohnheiten sind essenziell und eng mit den Essgewohnheiten verbunden. Laut Studien scheitern bis zu 80 Prozent der Menschen, sich gesünder und ausgewogener zu ernähren. Daher wird es zukünftig darum gehen, nachhaltige Ansätze zu schaffen, die gesunde und vor allem essgestörte Menschen dazu ermächtigen, ihr Verhalten langfristig zu ändern und achtsam zu leben.
Erschienen in der body LIFE
Die Fachzeitschrift body LIFE ist das führende Fachmagazin für Inhaber und Manager großer, mittlerer und kleiner Fitness-Anlagen jeglicher Art. Es enthält eine professionell abgestimmte Vielfalt an Artikeln versierter Fachautoren zu verschiedenen Themen:
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Die body LIFE gibt es seit über 30 Jahren. Seit jeher erfährt die body LIFE von ihrer treuen Leserschaft größte Aufmerksamkeit und höchsten Zuspruch.
Über die Autorin: Die Berliner Personal Trainerin Luise Walther arbeitet an der Schnittstelle Medizin-Fitness. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Reha- und Trainingsprozessen mit Fokus auf Schmerzreduzierung und Bewegungsoptimierung ihrer Kunden.
www.neurozentriertestraining.de
Quellen:
- Munro C, Randell L, Lawrie SM. An Integrative Bio-Psycho-Social Theoryof Anorexia Nervosa. Clin Psychol Psychother. 2017 Jan;24(1):1–21. doi:10.1002/cpp.2047. Epub 2016 Oct 13. PMID: 27739190.
- Treasure J, Duarte TA, Schmidt U. Eating disorders. Lancet. 2020 Mar14; 395(10227):899–911. doi: 10.1016/S0140-6736(20)30059-3. PMID:32171414.
- Foerde K, Steinglass JE, Shohamy D, Walsh BT. Neural mechanisms sup-porting maladaptive food choices in anorexia nervosa. Nat Neurosci. 2015Nov;18(11):1571-3. doi: 10.1038/nn.4136. Epub 2015 Oct 12. PMID:26457555; PMCID: PMC4624561.
- Borden A, Cook-Cottone C. Yoga and eating disorder prevention andtreatment: A comprehensive review and meta-analysis. Eat Disord. 2020Jul-Aug;28(4):400–437. doi: 10.1080/10640266.2020.1798172. PMID:32964814.
- Tosca D. Braun, Kristen E. Riley, Zachary J. Kunicki, Lucy Finkelstein-Fox, LisaA. Conboy, Crystal L. Park, Elizabeth Schifano, Ana M. Abrantes & Sara W.Lazar (2021) Internalized weight stigma and intuitive eating among stressedadults during a mindful yoga intervention: associations with changes in mind-fulness and self-compassion, Health Psychology and Behavioral Medicine,9:1, 933-950, DOI: 10.1080/21642850.2021.1992282.
- Warren, J., Smith, N., & Ashwell, M. (2017). A structured literature review onthe role of mindfulness, mindful eating and intuitive eating in changing eatingbehaviours: Effectiveness and associated potential mechanisms. NutritionResearch Reviews, 30(2), 272–283. doi:10.1017/S0954422417000154