Dehnen vs. Krafttraining – Was macht beweglicher?

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Klassisches Dehnen wird üblicherweise als die Trainingsform der Wahl angesehen, um sein Bewegungsausmaß zu erhalten, wiederzuerlangen oder zu erhöhen. Die einen lieben es und können sich Sport ohne Dehntraining nicht vorstellen. Die anderen halten es für überflüssig und berufen sich darauf, dass Auswirkungen von Dehnübungen auf die Muskulatur bisher noch nicht ausreichend erforscht seien. Die Bewegungstherapeutin Fee Meissner hat sich mit der Frage beschäftigt, ob es neben dem klassischen Stretching auch eine Alternative gibt, um unsere Beweglichkeit zu trainieren und langfristig zu verbessern. Sie kam zu einem interessanten Ergebnis.

Inhaltsverzeichnis

  1. Was bringt das Dehnen?
  2. Wie wichtig ist tägliches Dehnen?
  3. Studie: Vergleich von klassischem Dehntraining und Krafttraining
  4. Was passiert beim Dehnen im Körper?
  5. Von der Theorie zur Praxis
  6. Fazit

Was bringt das Dehnen?

Zum klassischen Dehntraining zählen Bewegungen, die zu einer bewussten Verlängerung des Muskel-Sehnen-Apparates führen. Dieser Effekt kann sowohl ohne eigene Muskelkraft (passives Stretching) als auch mit eigener Muskelkraft (aktives Stretching) erreicht werden. Dass uns konventionelles Dehntraining auch wirklich beweglicher macht, gilt nach diversen wissenschaftlichen Untersuchungen als bewiesen (Lederman 2013). Es werden mittlerweile unterschiedliche Arten von klassischem Dehntraining beschrieben. Hierzu zählen unter anderem das statische, das dynamische und das PNF-Stretching. In ihrer Wirksamkeit unterscheiden sich die unterschiedlichen Arten von Stretching allerdings nur unwesentlich voneinander (Thomas et al. 2018).

Wie wichtig ist tägliches Dehnen?

Wenn es lediglich dein Ziel ist, deine aktuelle Beweglichkeit zu erhalten (und nicht zu erweitern), dann ist ein Dehntraining – unabhängig von der gewählten Art des Stretchings – nicht einmal unbedingt notwendig. Denn tatsächlich reichen in der Regel bereits die Anforderungen unseres Alltags aus, um ein normales Bewegungsausmaß aufrechtzuerhalten. Verfolgst du aber das Ziel, deine Beweglichkeit zu erweitern und nicht nur deinen Status quo zu erhalten, dann können neben einem Dehntraining auch Wärmeanwendungen oder Massagen den Bewegungsspielraum deiner Gelenke verbessern – wenn auch nur kurzzeitig. Um deine Beweglichkeit langfristig zu erweitern, ist allerdings ein regelmäßiges Training notwendig. In diesem Fall lautet die Frage: Gibt es neben dem klassischen Stretching auch eine Alternative, um unsere Beweglichkeit zu trainieren und langfristig zu verbessern?

Betrachtet man die oben beschriebene Definition von klassischem Dehntraining näher, fällt auf, dass eine klare Differenzierung zwischen dem konventionellen Stretching und einem Krafttraining, das im vollen Bewegungsausmaß durchgeführt wird, kaum möglich ist. Denn auch beim Krafttraining wird der Muskel-Sehnen-Apparat gezielt verlängert. Wenngleich die meisten Trainierenden ihr Krafttraining nicht mit dem primären Ziel der Beweglichkeitssteigerung ausführen, so ist dieser zusätzliche Effekt der Beweglichkeitserweiterung nicht zu leugnen. Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Studienlage.

Studie: Vergleich von klassischem Dehntraining und Krafttraining

Im Rahmen einer Metaanalyse untersuchten Alfonso et al. elf randomisierte, kontrollierte Studien mit insgesamt 452 Probandinnen und Probanden, um die Wirksamkeit von Krafttraining und klassischem Dehntraining zu vergleichen (Alfonso et al. 2021). Nach der Analyse aller Studien konnten sie feststellen, dass es weder kurz- noch langfristig signifikante Unterschiede hinsichtlich der Wirkung auf die Range of Motion (ROM) zwischen klassischer Muskeldehnung und Krafttraining gab. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Dehntraining und Krafttraining tatsächlich in gleichem Ausmaß die ROM verbessern.

Was passiert beim Dehnen mit dem Körper?

Für dieses Ergebnis gibt es drei mögliche Erklärungen:

1. Reduktion der Schmerzsensitivität

Der Hauptgrund für die vergleichbare Wirkung von Krafttraining auf die ROM liegt vermutlich – ebenso wie beim klassischen Stretching – an einer Reduktion der Schmerzsensitivität. In der Regel ist unsere körperliche Beweglichkeit durch Schutzmechanismen des Körpers limitiert. Wenn ein Muskel stark in Länge gebracht wird, spannt die gegenspielende Muskulatur entgegen. Es wird ein Schmerzreiz ausgelöst, um uns vor einer Verletzung zu schützen. Wenn wir unseren Körper jedoch regelmäßig Dehnreizen aussetzen, verschiebt sich diese kritische Schmerzgrenze nach hinten. Das Nervensystem lernt, dass eine intensivere Dehnung keine Bedrohung darstellt. Der Körper lernt somit Dehnschmerzen besser zu tolerieren bzw. diese gar nicht erst als „Schmerzen“ zu identifizieren. Dadurch, dass ein Krafttraining, das in vollem Bewegungsumfang ausgeführt wird, ebenso zu einer intensiven Dehnung führen kann, ist dies der vermeintlich ausschlaggebende Funktionsmechanismus, der zu einer vergleichbaren Steigerung der Beweglichkeit bei beiden Trainingsformen – Stretching und Krafttraining – führt.

2. Zunahme der Fazikellänge

Neben diesem zentralen Mechanismus kann jedoch auch die Zunahme der Faszikellänge, die durch Krafttraining stattfindet, einen Einfluss haben. Der Unterschied zwischen der Faszikel- und der Muskellänge wird in Abbildung 1 deutlich. Diese strukturelle Veränderung ist insbesondere bei einem exzentrisch betonten Training – das ist die Phase, in der sich der Muskel unter Anspannung verlängert – und einem konzentrisch-exzentrischen Training über das gesamte Bewegungsausmaß der Fall. Während eine Verlängerung des Faszikels nicht für eine Steigerung der Beweglichkeit notwendig ist, könnte sie dennoch eine Einflussgröße sein (Freitas et al. 2018).

3. Verbesserung der Koordination

Darüber hinaus verbessert Krafttraining das Zusammenspiel der arbeitenden und gegenspielenden Muskulatur, auch als agonistisch-antagonistische Koaktivierung bezeichnet. Unter Forschenden wird derzeit diskutiert, dass diese Verbesserung der Koordination einen positiven Einfluss auf die Beweglichkeit haben könnte (De Boer et al. 2007).

Was heißt das nun für dein Beweglichkeitstraining?

Im folgenden praktischen Beispiel sollen diese beschriebenen Effekte und Wirkmechanismen anschaulich dargestellt werden:

Angenommen, du möchtest die Beweglichkeit deiner Beinrückseite durch eine klassische Dehnübung verbessern. Als klassische Dehnübung könntest du hierfür den allseits bekannten „Front Fold Stretch“ (Abbildung 2) nutzen. Hierbei machst du eine Rumpfvorbeuge und ziehst deinen Oberkörper mit deinen Armen an deine Beine heran; dadurch dehnst du deine Beinrückseite passiv.

Dehnen vs. Krafttraining zur Beweglichkeitsverbesserung: Das sind die wissenschafltichen Hintergründe, Vor- und Nachteile der Methoden.

Möchtest du stattdessen eine Kraftübung ausführen, um denselben Effekt zu erzielen, könntest du beispielsweise den „Good Morning“ (Abbildung 3) mit der Langhantel wählen. Auch hier dehnst du deine Beinrückseite, jedoch stärkst du sie im gleichen Moment, weil sie gemeinsam mit den Rückenstreckern und der Gesäßmuskulatur das Gewicht der Hantel exzentrisch kontrollieren muss. Somit wird die Beinrückseite aktiv in Länge gebracht – und nicht passiv wie beim „Front Fold Stretch“.

Dehnen vs. Krafttraining zur Beweglichkeitsverbesserung: Das sind die wissenschafltichen Hintergründe, Vor- und Nachteile der Methoden.

Wenn es um das klassische Dehnen geht, scheiden sich die Geister. Die einen lieben es, die anderen widmen sich diesem Part des Trainings nur unter großer Überwindung. Gute Nachrichten! Wenn dir klassisches Stretching nicht liegt, brauchst du dich nicht damit zu quälen, um deine Beweglichkeit langfristig zu verbessern. Ein angepasstes Krafttraining kann dir hier genauso dienlich sein wie ein Dehntraining. Zumindest dann, wenn du einfach nur deine allgemeine Beweglichkeit verbessern möchtest. Anders ist das, wenn du ein bestimmtes Stretching-Ziel, wie zum Beispiel den Spagat, anstrebst. Dann ist es empfehlenswert, neben dem Krafttraining unbedingt auch die Zielbewegung, in das Training zu integrieren. Auch im Beweglichkeitstraining erzielt ein spezifisches Training bessere Ergebnisse als ein allgemeines Training.

Fazit

Die in diesem Artikel beschriebenen Ergebnisse kannst du nutzen, um deine Trainingsinhalte besser und flexibler an deine Ziele anzupassen. Das heißt, wenn deine Trainingsbelastung unter der Woche bereits sehr hoch ausfällt und die Ressourcen deines Körpers schon entsprechend erschöpft sind, dann wäre es sinnvoller, wenn du mehr passive Dehnübungen in deinen Trainingsplan einbaust. Dadurch kannst du einem möglichen Übertraining besser entgegenwirken. Hast du andererseits nur begrenzt Zeit für dein Training, ergibt es mehr Sinn, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wähle eine Kraftübung, die gleichzeitig deine Beweglichkeit verbessert, aber auch die anderen positiven Effekte von Krafttraining miteinschließt. Wie du also siehst, führen auch beim Thema „Beweglichkeitstraining“ viele Wege nach Rom.

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Autorin: Fee Meissner ist Wirtschaftspsychologin und Bewegungtherapeutin und fördert seit 2013 Kunden in ihrer körperlichen und mentalen Flexibilität. Außerdem leitet sie im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung Workshops und Kurse für Unternehmen.

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Über den Autor

Fee Meissner

Fee Meissner ist Wirtschaftpsychologin und Bewegungstherapeutin und fördert seti 2013 Kunden in ihrer körperlichen und mentalen Felxibilität. Außerdem leitet sie im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung Workshops und Kurse für Unternehmen.

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