Dynamisches Training für eine bessere Beweglichkeit?

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Bevor das bekannte statische Stretching oder Dehnen weite Verbreitung fand, war dynamisches Dehnen im Rahmen gymnastischer Übungen das Maß der Dinge. In den 80er Jahren wurde den federnden Übungen noch eine größere Verletzungsgefahr zugeschrieben als dem statischen Dehnen. Das statische Dehnen sollte besser vor Verletzungen schützen und die Beweglichkeit in höherem Maße verbessern als das dynamische Beweglichkeitstraining. In wissenschaftlichen Studien stellen sich diese Annahmen jedoch nicht so dar und viele Empfehlungen bedürfen einer gründlichen Überarbeitung.

Nachdem die ersten Berichte über die Wirkung des statischen Dehnens bekannt wurden, ergab es sich recht schnell, dass das bis dahin im Sport etablierte Dehnen als unphysiologisch, gefährlich und antiquiert eingestuft wurde.(1) Bis heute hat sich diese „Erkenntnis“ in den verschiedenen Feldern der Sportpraxis gehalten, obwohl Studien die vermeintlichen Vor- und Nachteile neu bewerten.

 

Anatomische Grundlagen der Muskeldehnung

Aktin und Myosin sind die wesentlichsten Elemente der Muskelstruktur. Bei einer Muskelkontraktion schieben sich diese beiden Strukturen ineinander, während sie bei einer Muskeldehnung auseinandergezogen werden. Gleichzeitig werden auch das relativ spät entdeckte Strukturelement Titin und andere elastische Strukturen gedehnt und setzen dieser Dehnung einen zunehmenden Widerstand entgegen. Da sich zudem der Überlappungsgrad von Aktin und Myosin reduziert, nimmt die maximal mögliche Muskelspannung der kontraktilen Elemente ab. Der zunehmende Widerstand, die so genannte Stiffness, hat dabei die Funktion eine unphysiologische Überdehnung zu verhindern, um zu vermeiden, dass bis dahin zu einer Filamentüberlappung gedehnt wird.(2) Das Titin ist dabei für die elastischen Eigenschaften der kleinen Muskelstrukturen, den Sarkomeren, verantwortlich. Die elastischen Elemente, d.h. die bindegewebigen Strukturen im und um den Muskel, zeigen bei einer statischen Dauerdehnung ein anderes Verhalten als bei einer dynamischen, schnellen Dehnung. Hierbei führen langsame Dehnungen zum so genannten „Creeping-Effekt“, so dass in Folge dieser Dehnform die Fähigkeit der Muskulatur, kinetische Energie zu speichern, verloren gehen kann. Dies könnte die Verschlechterung der Schnellkraftleistungen durch Dehnen erklären.

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Was bedeutet dynamisches Dehnen?

Bei der aktiven Eigendehnung handelt es sich um mehrfach wiederholte federnde Bewegungen. Im Gegensatz zum statischen Dehnen wird die Position nicht für mehrere Sekunden gehalten. Stattdessen versucht der Sportler mit mehrfach wiederholten Bewegungen federnd das Bewegungsausmaß zu steigern. Diese Methode wird oft auch ungerechtfertigter Weise als „Zerrgymnastik“ bezeichnet und als schädlich abgelehnt. Bereits in älteren Veröffentlichungen wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die Übungen behutsam und gefühlvoll ausgeführt werden sollen und die Grenzen der Schmerzerfindung nur vorsichtig erreicht werden dürfen. Ruckhafte Durchführungen sind zu vermeiden!(1) Festgehalten werden kann gleichwohl, dass diese Methode deutlich schwieriger umzusetzen ist, weil die dynamische Bewegungsabfolge grundlegend höhere koordinative Anforderungen stellt. Dies kann jedoch kein Hinderungsgrund für das Ausführen solcher Übungen sein, sondern bedeutet allein, dass die Intensität fein dosiert werden muss und die Übungen in Ruhe gelernt werden sollten.(3) Die schnell entstehenden Dehnungen sorgen für Anpassungen des neuromuskulären Systems.

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Studienergebnisse zum dynamischen Dehnen

Im vorangegangenen Beitrag konnten wir bereits feststellen, dass sich dynamisches Dehnen besser eignet, um schnellkräftige Leistungen vorzubereiten als statisches Dehnen. Hier möchte ich Ihnen noch einmal ausgewählte Ergebnisse zur Beweglichkeit präsentieren und die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Dehnmethoden beleuchten. Beim Vergleich der verschiedenen Dehntechniken zeigte sich bei Patienten in einer stationären Rehabilitation, dass dynamisches Dehnen bessere Erfolge erzielte als statisches Dehnen. Innerhalb der Studie wurde die Beweglichkeitsverbesserung der Hüftfl exion untersucht.( 4) In einer anderen Vergleichsstudie zeigte sich, dass dynamisches Dehnen zu einer größeren Reduktion der Ruhespannung und somit der Entspannungsfähigkeit führt als statisches. In einer Übersichtsarbeit wurden 28 Studien zum Stretching vor der Frage der Effektivität ausgewertet und dabei eine Rangfolge aufgestellt.(5) Dynamisches Dehnen lag dabei jeweils vor dem statischen Dehnen. Allein Methoden des Anspannungs-Entspannungs- Dehnens werden in dieser Übersicht dem dynamischen Dehnen vorgezogen.

 

Beweglichkeitstraining – Alternativen testen

Insbesondere vor dem Hintergrund einer verbesserten Beweglichkeit ist das dynamische Dehnen also keineswegs zu verteufeln sondern kann durchaus wirkungsvoll eingesetzt werden. Dynamisches Dehnen birgt grundsätzlich kein erhöhtes Verletzungsrisiko und kann deshalb in Ihr Training eingebaut werden. Wenn es Ihnen um eine Verbesserung der Bewegungsreichweite geht oder Sie gar eine schnellkräftige Bewegung vorbereiten möchten, ist dynamisches Training dem statischen vorzuziehen. Alternativ zu den bekannten Übungen des dynamischen Dehnens bieten sich auch neue Trainingskonzepte zum Erweitern der Bewegungsreichweite an. Dazu müssen wir uns aber zunächst noch einmal mit dem Verständnis von muskulären Verkürzungen auseinandersetzen, um unterschiedliche Auffassungen ausschließen zu können.

 

Was ist eine Verkürzung?

Die Vorstellung, dass ein nicht regelmäßig gedehnter Muskel sich verkürzt, ist falsch, auch wenn die theoretischen Zusammenhänge plausibel erscheinen. Die strukturelle Länge eines Muskels ändert sich nicht, da die Anzahl der in Serie geschalteten Sarkomere nicht abnimmt. Eine „Verkürzung“, wie sie im Rahmen von Muskelfunktionstests festgestellt wird, ist keine echte Längenverkürzung des Muskels. Es handelt sich vielmehr um eine eingeschränkte Flexibilität bzw. Dehnfähigkeit. Oftmals lassen sich diese Anpassungen an Nicht-Gebrauch bereits wieder durch dynamisches Bewegen über den vollen Bewegungsumfang beheben. Das Ziel muss also sein, die Bewegungsreichweite zu erhöhen, in dem der Range of Motion (RoM) erhöht wird. Im Einklang mit den Studien zum dynamischen Dehnen können dies aber auch Bewegungsformen sein, die nicht direkt aus federnden Dehnübungen, sondern aus Bewegung bestehen.

 

Funktionelles Beweglichkeitstraining

Werden Verkürzungen unter funktionellen Gesichtspunkten betrachtet, ist das Ziel, einen Muskel mit Bewegungseinschränkung wieder in Bereichen zu nutzen, die lange Zeit ungenutzt blieben und so die Anpassung hinsichtlich einer reduzierten Beweglichkeit verursachten. Diese Übungen können solche aus dem Krafttraining sein, bei denen der Muskel über den vollen Bewegungsumfang arbeitet. Ausfallschritte und tiefe Kniebeugen sind Beispiele hierfür und können die Beweglichkeit massiv verbessern. Insbesondere vor einem Krafttraining bieten sich solche Formen des Beweglichkeitstrainings an, da nur Muskeln, die in vollem Umfang beweglich sind auch die Kraftübungen korrekt im vollen Bewegungsradius durchführen können. Wenn Sie mit dynamischen Übungen über den vollen Gelenkwinkel arbeiten passt sich die Muskulatur dahingehend an, denn endgratige Bewegungen erhöhen die Bewegungsreichweite.

 

Übung

Durchführung

Hüfterollen

Rückenlage, Beine um 90 Grad angehoben, drehen Sie die Beine zur Seite, bis die Knie fast den Boden berühren. Wechseln Sie zur anderen Seite.

Skorpion

Bauchlage, Arme sind seitlich abgespreizt, versuchen Sie nun das rechte Bein über den Rücken in Richtung linke Hand zu führen und umgekehrt.

Ausfallschritt mit Rotation

Machen Sie einen Ausfallschritt nach vorne und rotieren Sie nach der Landung mit dem Oberkörper nach Außen. Ihre Hände halten Sie dabei hinter dem Kopf oder halten Sie einen Medizinball mit gestreckten Armen vor Ihrer Brust.

Sumo-Kniebeuge zum Stand

Berühren Sie Ihre Zehen und gehen Sie dabei in eine tiefe Kniebeuge, Brust raus und Beine strecken, Rücken gerade halten und dann wieder in die Kniebeuge.

Tab. 1: Dynamische Übungen des funktionellen Trainings

 

Erhöhen Sie Ihre Beweglichkeit – mit Bewegung!

Trotz der umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen sind noch viele Fragen offen. Aufgrund dessen sollten Sie beim Thema Beweglichkeitstraining bzw. Dehnen auf die Kombination verschiedener Methoden setzen. Das soll aber nicht in Beliebigkeit, sondern vielmehr in einem Gesamtkonzept zur Muskeldehnung münden. Methodisch können Sie sich dabei an Konzepten zur Periodisierung Ihres Trainings orientieren und das Stretching dabei als eigenständige Trainingsform verstehen. Zum Aufwärmen empfehlen sich jedoch die angegeben Übungen mit dynamischen Komponenten. Es gibt Hinweise, dass Dehnen und statisches Stretching möglicherweise doch muskuläre Verletzungen reduzieren kann. Dies wurde bislang in verschiedenen Publikationen angezweifelt. Die Annahme, dass Dehnen nicht vor Verletzungen schützen könnte, lag jedoch teilweise an den nicht differenzierten Analysen der Verletzungen. Auf der anderen Seite ist die leistungsreduzierende Wirkung des Dehnens bei schnellkräftigen Leistungen gesichert, wobei es Strategien zu geben scheint, die die möglichen negativen Effekte relativieren könnten. Gegen das Dehnen spricht also in Bezug auf die Verletzungsprophylaxe nur wenig!

 

Trainingstipps

– Nutzen Sie die Wirkung des dynamischen Beweglichkeitstrainings und bauen Sie solche Übungen in Ihr Training ein.

– Zur Verbesserung der Beweglichkeit sollten Sie dynamische Übungen über den vollen Bewegungsumfang durchführen.

– Statisches Dehnen sollten Sie als eigenständige Trainingseinheit durchführen, dynamische Übungen können gut mit dem normalen Training kombiniert werden.

Autor: Dennis Sandig

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Quellenangaben:

1. Sportwissenschaft, 1997, Bd. 27 (3), S. 411–421

2. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 1994, Bd. 45, S. 336–345

3. Leistungssport, 2005, Bd. 35 (2), S. 20–23

4. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 1991, Bd. 42, S. 386–400

 

Fachsprache

Aktin – Molekül in der Muskelstruktur, das gemeinsam mit Myosin für die Muskelkontraktion verantwortlich ist

Myosin – Molekül in der Muskelstruktur

Hüftflexion – Beugung der Hüfte

Range of Motion (RoM) – beschreibt den maximal möglichen Bewegungsumfang

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Über den Autor

Dennis Sandig

Dennis Sandig arbeitete als Sportwissenschaftler am Institut für Sportwissenschaften der Julius-Maximilians Universität in Würzburg. Aktuell ist er bei der Deutschen Triathlon Union als Wissenschaftskoordinator und Referent für Bildung zuständig, sowie für das umfassende Aus- und Fortbildungsprogramm für Coaches im Triathlon.

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