Adaptation: Funktionelles Training ist im Grunde nicht neu – neu sind jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Aktivierungsmustern und Adaptationsprozessen. Wann ist eine Übung überhaupt funktionell und warum sind funktionelle Übungen nicht gleichbedeutend mit komplexen Übungen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Sportwissenschaftler Dr. Lutz Herdener.
Inhaltsverzeichnis
- Was ist Adaptation im Sport?
- Adaptation durch Time under Tension
- Warum unilateral trainieren?
- Positionierung
- Was bedeutet Progression im Training?
- Neue wissenschaftliche Erkenntnisse
- Umsetzung im Studio
- Fazit
Was ist Adaptation im Sport?
Funktionelles Training ist ein Begriff, der uns in der Fitnessbranche seit einigen Jahren begleitet. In diesem Artikel sollen jedoch weder verschiedene Definitionen einander gegenübergestellt noch funktionelle von nicht funktionellen Übungen abgegrenzt werden – falls so etwas überhaupt möglich ist. Vielmehr geht es um das Thema „zielorientiertes Training“ und die diesbezüglich relevanten Kenngrößen.
Entsprechend dem Motto „Erfolg gibt recht“ bedeutet eine funktionelle Ausrichtung des Trainings, dass man schnell, sicher und nachhaltig seine gesteckten Ziele erreicht. Das kann sowohl eine entsprechend komplexe Zielbewegung (z. B. Tennisaufschlag) als auch erst mal nur Muskelwachstum sein. An dieser Stelle möchte ich nicht über die Sinnhaftigkeit verschiedener Ziele sprechen. Dies ist schließlich situativ ganz unterschiedlich ist. Stattdessen möchte ich direkt zu einem ersten entscheidenden Punkt kommen: „Funktionell“ bedeutet nicht unbedingt „komplex“. Auch wenn dies oft durch die freien Geräte und die wenig geführten Übungen suggeriert wird. Sicherlich ist es notwendig, dass in einem Studio ein funktioneller Trainingsbereich die Möglichkeiten des freien, nicht geführten Trainings bietet. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ein Einsteiger mit komplexen Einbeinständen und einseitigem Training beginnen sollte.
So richten sich der Übungscharakter und die -zusammenstellung zum einen nach der Zielstellung des Sportlers als auch nach dessen Leistungsniveau. Letztlich ist das nichts Neues – es verdeutlicht aber, dass es beispielsweise für einen fortgeschrittenen Sportler stimmig sein kann, isoliert und einseitig den geführten Bicepscurl zu trainieren, um eine maximale Hypertrophie zu erreichen; das kann in diesem konkreten Fall hochgradig funktionell sein. Es geht beim funktionellen Training eher darum, mit welcher Ausrichtung man die Übungen auswählt und in der Progression zusammenstellt. Die Übungsausrichtung wird nicht nur durch Wiederholungszahl, Sätze und Gewicht definiert, sondern auch ganz entscheidend durch die Zeit, die der Muskel unter Anspannung steht (Time under Tension).
Was stärkt die Sehnen? – Adaptation durch Time under Tension
Die Studienlage zu Adaptationsmechanismen im Krafttraining zeigt, dass sich die verschiedenen Anpassungen durch unterschiedliche Ausführungsmuster fokussieren lassen. Wenn wir das eben genannte Beispiel nehmen, so können wir uns bei einer hypertrophen Ausrichtung sicherlich an der Wiederholungszahl orientieren. Genauso relevant ist aber eine hohe „Time under Tension“ in der Exzentrik. Der Grund sind vermehrte Mikrotraumata in der Muskulatur und somit ein erhöhter Trigger für Muskelwachstum. Das ist in etwa vergleichbar mit dem Muskelkater nach dem Bergablaufen. Im Gegensatz dazu sind kurze Wechsel zwischen exzentrischer und konzentrischer Phase (z. B. plyometrisches Training) eher zielführend für eine stärkere Adaptation der Sehnen sowie eine neuronale Aktivierung und somit eine höhere und schnellere Kraftentwicklung. Es lässt sich also deutlich erkennen, dass ein Aspekt der funktionellen Ausrichtung die Ausführungsgeschwindigkeit in den unterschiedlichen Phasen und deren Übergangspunkten ist.
Warum unilateral Trainieren?
Beidseitiges Training wurde lange Zeit als „funktionell“ beschrieben, da es zeitsparend ist und man ja sozusagen die „doppelte Arbeit“ in der gleichen Zeit verrichtet. Unter dem Gesichtspunkt einer zeitökonomischen Ausrichtung mag das stimmen und ist definitiv nicht von der Hand zu weisen. Allerdings hat auch einseitiges Training unter gewissen Voraussetzungen mehrere Vorteile. So zeigt sich im Regelfall durch einseitiges Training eine höhere Anpassung der lateralen und rotationalen Rumpf- oder Beinachsenstabilität. Gleichzeitig lässt sich vor allem bei hohen Gewichten normalerweise eine höhere neuronale Aktivierung realisieren, was im Umkehrschluss zu einer stärkeren Adaptation auf der Ebene der Ansteuerung der Nerven führt – sicherlich mit einem erhöhten zeitlichen Aufwand, aber eben unter gewissen Gesichtspunkten funktioneller als ein beidseitiges Training. So zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass es letztlich auf die verschiedenen Parameter der Übungsgestaltung ankommt.
Positionierung
Ein nicht zu vernachlässigendes Thema ist die Positionierung des Sportlers. Wie eingehend beschrieben, ist eine instabile Position nicht zwingend die zielführendste, nur weil sie die Übung vermeintlich (noch) anspruchsvoller macht. Gerade beim Training mit hohen Gewichten und der Zielsetzung „Kräftigung der Extremitäten“ sollte man durch eine stabile Position die Rumpf-, Schulter- und/oder Beinachsenstabilität bewusst in den Hintergrund stellen. Diese können dann sukzessive in das Training integriert werden, wenn der Schwerpunkt verschoben oder erweitert werden soll. Gleiche Ansätze lassen sich auch im Parallelstand bzw. in der Schrittstellung umsetzen, um so die Übung im Verlauf der Trainingsgestaltung zu variieren.
Was bedeutet Progression im Training?
Als Trainer haben wir die Aufgabe, Übungen in regelmäßigen Abständen zu modifizieren und auch neu zu gestalten, damit der Trainingseffekt nicht abnimmt. Ob im Sinne einer Progression oder einer Variation der Übung agiert wird, ist an dieser Stelle zweitrangig. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass eine Übung auf verschiedene Art und Weise variiert werden kann. Das klassische Modell: „Wir nehmen einfach mehr Gewicht“, ist längst überholt. Wir haben mit der beschriebenen „Time under Tension“, dem Stabilitätscharakter, den Freiheitsgraden der Bewegung und vielen anderen Stellschrauben die Möglichkeit, Übungen wirklich vielfältig zu variieren.
Diese Beispiele zeigen deutlich, dass der Ansatz der „nächst schwierigeren oder einfacheren“ Übungen nicht haltbar ist. Vielmehr sollte die jeweilige Übung über Widerstand/Gewicht, Seitigkeit, Positionierung, Stabilitätsanspruch und viele weitere Parameter hinsichtlich der nächsten Ausrichtung umgestaltet werden. Dies muss nicht zwingend eine schwierigere Übung sein, sondern kann auch bedeuten, dass man bei erkannten Defiziten (z. B. bei der Kniebeuge) verschiedene isolierte Vorübungen einsetzt. Im Zuge eines progressiven funktionellen Trainings sollte mit isolierten Vorübungen begonnen und dann zur komplexen Bewegung hintrainiert werden. Dies kann im Rahmen einer einzelnen Trainingseinheit erfolgen oder auch im Rahmen eines mehrwöchigen Trainingsplans.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Adaptation
Das funktionelle Training wurde gern als Innovation im Fitnessbereich bezeichnet. Wenn man ehrlich ist, ist eine Übung wie die „Standwaage“ schon seit Langem Teil verschiedenster Trainingspläne. Und auch ein- oder beidbeinige Brücken sind, genau wie viele andere Übungen, keine wirkliche Neuerung in der Trainingswelt. Was sich allerdings signifikant geändert hat, sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Aktivierungsmustern und Adaptationsprozessen, welche die Erfahrungswerte der letzten Jahrzehnte ergänzen. Mir ist diese Kombination beider Ansätze wichtig, da sich sicherlich nicht jeder Trainingseffekt und jede Übungseigenschaft wissenschaftlich belegen lässt. Eine Übung ist aus verschiedenen Perspektiven zu bewerten. So ist neben der rein physiologischen bzw. biomechanischen Betrachtungsweise definitiv auch die psychologische Komponente entscheidend bei der Bewertung einer Übung. Somit können für den Trainer bei der Übungsauswahl der Spaß und die Gewohnheiten des Trainierenden eine große Rolle spielen.
Den funktionellen Ansatz und dessen Gestaltungsmöglichkeiten habe ich am Beispiel des Krafttrainings dargestellt. Letztlich lässt sich die Frage: „Mit welcher Trainingsmethode erreiche ich meine gesteckten Ziele am besten?“ genauso beim Schnelligkeits- und Ausdauertraining stellen. Gerade am Beispiel des Intervalltrainings im Gegensatz zur klassischen Dauermethode zeigt sich, dass ein Intervalltraining aus verschiedensten Gesichtspunkten (z. B. im Regelfall auch unter dem Aspekt der zeitlichen Ökonomie) überlegen ist, aber eben nicht die gleichen Adaptionen in entsprechendem Maße abdeckt wie eine weniger intensive, langsame Einheit.
Umsetzung im Studio
Was bedeuten die dargestellten Sachverhalte letztlich für Studiobetreiber? Funktionelle Trainingsbereiche, wenn man diese nun überhaupt noch so nennen möchte, sind gekennzeichnet durch Kleingeräte und die Möglichkeit eines mehrdimensionalen Trainings mit verschiedenen Bewegungsebenen. Gerade hier sollte den Trainern das entsprechende Handwerkszeug mitgegeben werden, damit sie die Kunden entsprechend anleiten und betreuen können.
Im ersten Schritt kann auch eine vorgegebene Übungsauswahl, eine erste Orientierung bieten. Zum Beispiel bewegungsvorbereitende Übungen und ein Übungspool mit Zug- und Druckmustern. Das entspricht zwar zu großen Teilen einem Copy-and-paste-Modell, lässt sich aber gut als Basis nutzen, um in den nächsten Schritten individueller mit den Mitgliedern zu arbeiten. Ein anatomisches Grundverständnis sowie die Kenntnis über Variationsmöglichkeiten und deren Relevanz sind allerdings für die Anpassung von entscheidender Bedeutung. Sicherlich mag es zunächst der längere und zeitintensivere Weg sein. Allerdings lohnt sich eine breite Basis. Denn das Wissen lässt sich auch auf andere Bereiche der Trainingsgestaltung übertragen und man kann sich so von der Konkurrenz abheben.
Fazit
Abschließend kann man festhalten, dass es letztlich für eine gute Trainingsgestaltung – unabhängig von der Zielgruppe – immer darauf hinausläuft, sich eine breite „Toolbox“ zu erarbeiten. Aus der kann man die jeweils besten Trainingsmethoden und deren Zusammenstellung für seine Kunden auswählen. Ein reines Copy-and-paste-Modell stößt dabei schnell an seine Grenzen. Es lohnt sich, sich ein Grundverständnis der Trigger und Adaptation anzueignen. Als Studiobetreiber oder Teamleiter kann man dann ein entsprechendes spezifisches Konzept erarbeiten. So kann durch einheitliches Auftreten und eine abgestimmte Kommunikation die Wertigkeit des Konzepts in der Kundenbetreuung adäquat dargestellt werden.
Erschienen in der body LIFE
Die Fachzeitschrift body LIFE ist das führende Fachmagazin für Inhaber und Manager großer, mittlerer und kleiner Fitness-Anlagen jeglicher Art. Es enthält eine professionell abgestimmte Vielfalt an Artikeln versierter Fachautoren zu verschiedenen Themen:
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Autor: Dr. Lutz Herdener ist Sportwissenschaftler, Physiologe, Leistungsdiagnostiker und Leiter der „Sportpraxis München“, eines Netzwerks, das Kompetenzen aus den Bereichen Medizin, Physiotherapie und Trainingswissenschaft verbindet.