Atmung – Der Schlüssel zu besserer Bewegungsqualität?

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Was kann ich gegen meine Nackenverspannungen unternehmen? Warum komme ich mit meinen Fingern nicht bis runter zu meinen Füßen? Und wie kann ich mein Stresslevel senken? Christopher Herrmann erklärt, warum unserer Atmung eine zentrale Rolle bei diesen Fragen zukommt.

Bewegungsmuster, Körperhaltung, Leistungsfähigkeit und Schmerz sind Themen, mit denen sich jeder Trainer regelmäßig auseinandersetzen muss. Das Postural Restoration Institut (PRI) verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz zur Behandlung von Schmerzen und Dysfunktionen und arbeitet dabei mit den „4 P“:

  • Patterns (Bewegungsmuster),
  • Posture (Körperhaltung),
  • Performance (Leistungsfähigkeiten)
  • Pain (Schmerz).

Da unsere Atmung jeden dieser vier Bereiche stark beeinflusst, gehe ich nachfolgend auf jeden dieser Punkte ein und gebe einen Überblick über die grundlegenden Zusammenhänge.

Atmung und Bewegungsmuster

Die Atmung unterliegt einem sehr komplexen Bewegungsmuster, das wir 20.000–25.000-mal am Tag durchführen. Atemmuskeln und Atemhilfsmuskeln arbeiten dabei zusammen, um den Gasaustausch in der Lunge zu gewährleisten – immer angepasst an die Anforderungen, die wir gerade an unseren Körper stellen. Unsere Lunge folgt dabei dem Druck im Brustkorb und dieser Druck wird wiederum von muskulärer An- und Entspannung bestimmt. Durch die Kontraktion des Zwerchfells (dem „König der Atemmuskeln“) und anderer Atemhilfsmuskeln entsteht ein vergrößerter Raum in der Brusthöhle, was einen Unterdruck erzeugt. Dieser Unterdruck sorgt dann dafür, dass Luft durch unsere Atemwege in die Lunge und ihre Lungenbläschen gezogen wird.

Die Atmung ist also ein aktiver Vorgang, der muskulär gesteuert wird. Ähnlich wie bei einer Kniebeuge oder bei Liegestützen bewegen wir auch beim Atmen unsere Muskeln und unser Skelett. In diesem Fall sorgt diese Bewegung dafür, dass wir atmen können und somit unsere Zellen weiterhin mit Sauerstoff versorgt werden. Genau wie bei allen anderen Bewegungen kann es auch beim Atmen zu Kompensationen und Fehlbelastungen kommen.

Atmung und Körperhaltung

Unsere Körperhaltung reflektiert die Position vieler Teilsysteme, die am Ende ein großes Ganzes ergeben. Der Körper versucht immer, möglichst effizient und energiesparend zu arbeiten. Dabei sind seine Hauptaufgaben die Überwindung der Schwerkraft (um nicht umzufallen) und die Sauerstoffversorgung der Zellen (über die Atmung). Unsere Haltung ist also sehr eng mit unserer Atmung verknüpft. Da wir einen gewissen Atemwiderstand überwinden müssen, wird sich unser Körper immer so positionieren, dass besagter Widerstand so gering wie möglich bleibt. Unsere Körperhaltung bedingt also in einem gewissen Maß unser Atemmuster und gleichzeitig bedingt unser Atemmuster auch unsere Körperhaltung.

Welche Körperhaltungen unterstützen das Atmen?

Hier kommt das biomechanische Grundprinzip „position dictates function“ ins Spiel: Indem wir unsere Position (Körperhaltung) aktiv verändern, können wir unsere Atmung beeinflussen. Zum Beispiel können wir mit der richtigen Ausrichtung des Brustkorbs das Zwerchfell so beeinflussen, dass es effizienter arbeiten kann. Hierbei spielt das Längen-Spannungsverhältnis dieses komplexen Muskels genauso eine Rolle wie die Range of Motion, die das Zwerchfell durchlaufen kann. Auf der anderen Seite können wir durch die Atmung unsere Körperposition beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist eine lange, feste Ausatmung, die unsere Bauchmuskeln aktiviert und somit unseren Brustkorb in eine neutralere Position bringt. Auch diese Herangehensweise beeinflusst wiederum die Ausrichtung unseres Zwerchfells.

Atmung und Leistungsfähigkeit

Egal ob Kraft- oder Ausdauersportler, die Atmung beeinflusst die Leistungsfähigkeit jedes Athleten erheblich. Für Gewichtheber oder Powerlifter ist die richtige Atmung extrem relevant, um Spitzenleistungen zu erzielen. Ohne den Druck, den wir in Bauchraum und Brusthöhle erzeugen können, wären schwere Deadlifts, Squats, Reißen oder Stoßen unmöglich. Auch hier spielt das Zwerchfell wieder eine zentrale Rolle. Wir könnten den extremen externen Lasten niemals standhalten, wenn wir die Druckverhältnisse im Körper nicht bis zu einem gewissen Grad steuern könnten.

Auch für einen Ausdauerathleten hängt die Leistungsfähigkeit stark davon ab, wie gut seine Muskeln über einen langen Zeitraum mit Sauerstoff versorgt werden können.

Wie kann das Atmungssystem die Leistung steigern?

Eine effiziente Atmung bedeutet in diesem Zusammenhang ein gutes Management von CO2 und O2. Unsere Atemmuster und unsere Atmungsgewohnheiten spielen auch hier wieder eine große Rolle. So atmen wir zum Beispiel 10–20 Prozent effizienter, wenn wir statt durch den Mund nur durch die Nase atmen. Denn so können wir nicht nur den vorhandenen Sauerstoff effektiver nutzen, sondern auch Faktoren wie der pH-Wert unseres Blutes und die Durchblutung unseres Gewebes werden nachhaltig durch die Biomechanik unserer Atmung beeinflusst. Deshalb sollten wir besonders bei weniger intensiven Belastungen ausschließlich durch die Nase atmen.

Atmung und Schmerz

Auch Schmerzen können positiv durch die Atmung beeinflusst werden, denn unsere Atmung hat einen großen Einfluss auf unser autonomes Nervensystem, das aus zwei Teilen besteht:

  • dem sympathische Nervensystem, das hauptsächlich Funktionen von „Fight or Flight“ steuert und somit mit Aktivierung und Stressantwort einhergeht, und
  • dem parasympathischen Nervensystem, das auch oft als „Rest and Digest“-System des Körpers bezeichnet wird, denn es steuert die regenerativen Prozesse des Körpers.

Wie atme ich Schmerz weg?

Das Wissen um die Zusammenhänge zwischen Atmung und autonomem Nervensystem wird u. a. bei der Wim-Hof-Methode, bei Meditationen, bei der aktivierenden Übung „Breath of Fire“ (einem kontrollierten „Hyperventilieren“ mit kurzen schnellen Atemzügen, bei dem wir eher mehr ein- als ausatmen) und bei der beruhigend wirkenden Übung „Boxbreathing“ (Atemtechnik, bei der man 3–5 Sekunden einatmet, danach 3–5 Sekunden die Luft anhält, danach 3–5 Sekunden ausatmet und danach wieder 3–5 Sekunden die Luft anhält) genutzt. Die Atmung wird auch als „der Schlüssel zum autonomen Nervensystem“ bezeichnet.

Eine der einfachsten Möglichkeiten ist, die Atmung zu nutzen, um uns in einen parasympathischen Zustand zu versetzen. Gerade bei chronischen Schmerzen können die Aktivierung des Parasympathikus und die damit einhergehende Hemmung des Sympathikus dazu führen, dass wir Schmerzen weniger stark wahrnehmen. Dazu kommen weitere positive Einflussfaktoren wie z. B. ein reduzierter Muskeltonus, der überaktiven Muskeln eine Pause verschaffen kann.

Neue Perspektive für bessere Antworten

Wenn wir die oben beschriebenen komplexen Zusammenhänge verstanden haben, können wir körperliche Symptome unter einem ganz anderen Blickwinkel betrachten und mögliche Ursachen in Betracht ziehen, an die wir bisher nicht gedacht haben.

Was hilft gegen meine massiven Verspannungen im Nacken?

Es kann hilfreich sein, die überaktiven Atemhilfsmuskeln (in diesem Fall die Nackenmuskulatur) zu entlasten, indem wir an der Ausrichtung und Aktivierung des Zwerchfells arbeiten. In erster Linie bedeutet das, den Brustkorb beim Einatmen in alle Richtungen (360°) auszudehnen, ohne dabei die Schultern hochzuziehen

Wieso komme ich mit meinen Fingern nicht runter bis zu den Füßen?

Statt die „Schuld“ bei einzelnen Muskelgruppen zu suchen, können wir uns mit den Druckverhältnissen im Brustkorb beschäftigen, die einen großen Einfluss auf unsere Beweglichkeit haben. Wenn wir es z. B. nicht schaffen, unseren hinteren Brustkorb auszudehnen, kann das die Beweglichkeit unserer Wirbelsäule einschränken. Und genau hier kann der Grund dafür liegen, dass jemand nicht bis zu seinen Füßen kommen kann.

Wie kann ich meinen Core stabilisieren?

Durch Coaching und Cueing können wir einer instabil gewordenen Körpermitte wieder zu mehr Stabilität verhelfen. Ein Cue wie „Zieh deine Rippen runter“ oder „Halte deine Rippen unten“ wirkt oft Wunder. Diese neutralere Position im Oberkörper erlaubt es dem Zwerchfell, gut zu arbeiten und somit für den nötigen Druck im Bauchraum zu sorgen, der unseren Core stabil hält.

Wie kann ich mein Stresslevel senken?

Vermeintlich einfache Interventionen, wie zum Beispiel langes, tiefes Ausatmen über fünf Atemzüge während oder nach einer stressigen Situation, können das akute Stresslevel spürbar senken. Auch der bewusste Einsatz von Nasenatmung sowohl im Alltag als auch während leichten Belastungen (z. B. beim Spazieren oder Fahrradfahren) kann sich sehr positiv auswirken.

Weiterführende Literatur

  • Patrick Mckeown: Erfolgsfaktor Sauerstoff. Riva Verlag, 2019.
  • Robert Sapolsky: Warum Zebras keine Migräne kriegen – Wie Stress den Menschen krank macht. Piper Verlag, 1998.
  • James Nestor: Breath – Atem. Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens. Piper Verlag, 2021.
  • Leon Chaitow: Recognizing and Treating Breathing Disorders: A Multidisciplinary Approach. Churchill Livingstone, 2013.

Autor und Sportexperte: Christopher Herrmann

Der Sportwissenschaftler ist Coach und Head of Education bei MTMT Gym in München sowie Host des MTMT Podcasts.

www.mtmt.live

 

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