Die tiefe Hocke – So machst du sie richtig! Du kannst keine tiefen Kniebeugen, weil deine Sprunggelenke zu „unbeweglich“ oder deine Muskulatur „verkürzt“ ist? Lehnst du dich tendenziell mit dem Oberkörper nach vorne, statt dich tief zwischen deine Fersen zu setzen? Oder brauchst du ein Gegengewicht, um tiefer in die Kniebeuge gehen zu können? Yassin Jebrini, Sportwissenschaftler (M.A.), Personal- und Neuro-Athletik-Trainer, beantwortet die wichtigsten Fragen.
Der Einfluss der Hüfte auf die Kniebeuge
Vorneweg: es gibt anatomische Unterschiede im Aufbau der Hüfte, die sich entsprechend auf die Ausführung der tiefen Hocke auswirken können. Die Unterschiede beziehen sich allerdings primär auf die Standposition und weniger auf die Tiefe einer Kniebeuge.
Beweglichkeitseinschränkungen bei bestimmten Bewegungen existieren nicht einfach so, sondern werden von deinem zentralen Nervensystem (ZNS) vorgegeben. Deine Muskulatur, deine Sehnen, deine Faszien usw. entscheiden nicht selbstständig über ihren Spannungs- und Elastizitätszustand, sondern bekommen die entsprechenden Befehle vom ZNS.
Dieses versucht in erster Linie unsere unmittelbare Sicherheit zu gewährleisten, daher möchte es möglichst immer genau vorhersehen, was in der näheren Zukunft passiert. Dazu wertet unser ZNS non-stop Informationen aus unserer Innen- und Umwelt aus. Die eingehenden Informationen sind Voraussetzung, um die Situation zu bewerten und entsprechend einen qualitativ hochwertigen motorischen Output – hier eine schöne tiefe Kniebeuge – zu ermöglichen.
Tiefe Hocke lernen: Die ideale Voraussetzung
Ohne gute und klare eingehende Informationen wird das ZNS Bewegungen und Situationen immer als potentiell gefährlich einstufen und zu Schutzmaßnahmen greifen, die geschmeidige schmerzfreie Bewegungen verhindern – Beweglichkeitseinschränkungen, Schmerzen, ein hoher Muskeltonus uvm. sind die Folgen.
In Bezug auf die tiefe Hocke bedeutet das nun konkret: wenn dein ZNS eine bestimmte Tiefe deiner Kniebeuge als potentiell unsicher einstuft, wird es alles Notwendige unternehmen, um dich daran zu hindern, diese Position einzunehmen! Um die Bewegung einstufen zu können, wertet das ZNS während der Ausführung der Kniebeuge nicht nur visuelle und propriozeptive Informationen aus – eine entscheidende Rolle spielt das Gleichgewicht.
Im Allgemeinen ist unser Gleichgewicht permanent mit zwei Fragen beschäftigt:
- Wo ist oben?
- In welche Richtung bewege ich mich?
Um diese Fragen beantworten zu können, verfügt unser Gleichgewicht über verschiedene Sensoren. Diese erfassen permanent sowohl horizontale, als auch vertikale Beschleunigungen sowie Rotationen des Kopfes und des Körpers.
Inwiefern spielt das Gleichgewicht nun eine Rolle für meine tiefe Hocke?
Die Kniebeuge ist primär eine Auf- und Abwärtsbewegung. Wenn das Gleichgewicht während dieser Bewegung keine klaren Informationen liefert und daher die Sicherheit der Bewegung nicht gewährleistet ist, kommt es zu Beweglichkeitseinschränkungen – Stürzen und Umfallen ist und war nie ein guter Überlebensplan.
Da wir verschiedene Gleichgewichtssensoren haben, greift unser ZNS immer auf die klareren Informationen zurück, da so eine bessere Prognose erstellt werden und die eigene Sicherheit eher gewährleistet werden kann. Liefern die Sensoren für vertikale Bewegungen keine eindeutigen Informationen, die für horizontale Bewegungen hingegen sehr gute, nutzt unser ZNS immer die Informationen, die klarer sind!
In der Praxis sieht man häufig Kniebeugen, bei denen der Oberkörper nach vorne geneigt wird, anstatt die Hüfte dem Boden anzunähern. Klassische Erklärungsansätze sind zu unbewegliche oder steife Sprung-, Knie- und Hüftgelenke – und so fühlt es sich für die Betroffenen auch an. Das sind nämlich die Gelenke, die die vertikalen Bewegungen der Beine überhaupt ermöglichen können. Diese Gelenke sind jedoch nicht unbeweglich, weil sie tatsächlich eingeschränkt sind, sondern weil das ZNS die Bewegung aufgrund unzureichender Gleichgewichtsinformationen einschränkt!
Die tiefe Hocke in der Praxis
Wie wir feststellen, ist das Gleichgewicht als höhere neuronale Instanz entscheidend für das Ausführen einer tiefen Kniebeuge – es misst, wie wir während der Bewegung im Raum stehen und sendet entsprechende Informationen an das ZNS, welches auf dieser Grundlage wiederum entscheidet, ob die Bewegung sicher ist oder nicht. Das Mobilisieren der entsprechenden Gelenke, wie es in der Trainingspraxis häufig zur vermeintlichen Verbesserung der Kniebeuge durchgeführt wird, ist demnach reine Symptombehandlung und somit ineffizient.
Zur Verbesserung der Kniebeuge sollten wir also gezielt unser Gleichgewicht trainieren. Unser Gleichgewichtsorgan sitzt im Innenohr, daher erfordert ein Gleichgewichtstraining immer eine Beschleunigung des Kopfes! Stehen auf einem Bein oder auf instabilen Untergründen ohne Kopfbewegungen einzubeziehen, hat also wenig mit Gleichgewichtstraining zu tun.
Wie kann ein Training des Gleichgewichts für meine Kniebeuge aussehen?
Zur Aktivierung der Sensoren, die die vertikalen Beschleunigungen messen, eignen sich kleine und schnelle vertikale Sprünge oder ein vertikales Wippen auf den Zehenspitzen, während die Augen ein Ziel fokussieren. Das visuelle Ziel muss während der gesamten Übung klar und deutlich zu sehen sein. Zusätzlich kann die Übung mit dem Kopf in der Seitneigung durchgeführt werden.
Auch die horizontalen Sensoren benötigen oft zusätzliche Aktivierung. Dies erreichen wir primär durch horizontale Beschleunigungen des Kopfes – hierfür eignen sich schnelle Schritte zur Seite, während die Augen ein Ziel fokussieren und der Kopf nicht rotiert. Auch hier muss das visuelle Ziel während der gesamten Übung klar und deutlich zu sehen sein.
Weitere Übungen für das Gleichgewicht findet ihr im Artikel „Körperhaltung Mythos & Wahrheit“
Viel Spaß beim Üben der tiefen Hocke!
Abonniere meinen Newsletter für regelmäßige Informationen zur Optimierung deines Trainings.
Auf meiner Website findest du alle Infos zu meinen Seminaren, Coaching und weiteren Produkten:
Unser Tipp aus der Redaktion: An diesem Buch führt kein Weg vorbei!
Königin Kniebeuge – Krafttraining mit der Mutter aller Übungen
Die Kniebeuge ist die „Mutter aller Übungen“ und aus keinem Krafttraining wegzudenken. Dieses Buch hilft dabei, die Kniebeuge strukturiert und beschwerdefrei aufzubauen und die eigene Leistung oder die Leistung der Klienten zu verbessern. Überdies beschäftigen sich die Inhalte nicht nur mit der Ausführung der Kniebeuge, sondern auch mit biomechanischen Aspekten und der langfristigen Programmplanung im Kontext von zusätzlichen Assistenzübungen.
So lernt man den Zugang zur Kniebeuge auch dann, wenn Einschränkungen in der Beweglichkeit und technische Defizite im Weg stehen. Patrick Meinart, Sportwissenschaftler und Trainingsexperte, erklärt detailliert mit einer Vielzahl von Beispielen die Welt der Squats. Er beschreibt, wie das Zusammenspiel von Biomechanik und individueller Anatomie die Kniebeuge in ihren vielfältigen Variationen beeinflussen kann.
Dabei legt er nicht nur Wert auf die technischen Komponenten! Er räumt auch mit Mythen auf, wonach tiefe Kniebeugen schlecht für die Knie wären und zu Rückenschmerzen führen können.
Quellenangabe
- Cobb, W. E. (2017): Certification Workbook – Z-Health I-Phase 2.0.
- DeBell, R. (2015): The real reason why people must squat differently. Zugriff am 21.11.2018 unter: https://www.theptdc.com/2015/02/why-people-must-have-different-squat-stance/
- Gaerlan, M. G. (2010): The role of the visual, vestibular, and somatosensory systems in postural balance. Zugriff am 13.10.2018 unter: https://digitalscholarship.unlv.edu/cgi/ viewcontent.cgi?article=1382&context=thesesdissertations
- Purves, D., Augustine, G. J., Fitzpatrick, D. et al. (2001): The vestibular System. Sunderland: Sinauer Associates.