Balancetraining – Irrtümer und Mythen

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Balance, oder Gleichgewicht, ist eine Fähigkeit des menschlichen Körpers, die zur Zeit in vielen Bereichen erneut in den Fokus gerückt wird. Ob im Kontext sportartspezifischer Fertigkeiten von Spitzensportlern(1), der Optimierung von Sicherheit und Leistung bei Alltagsathleten(2) oder der Sturzprophylaxe in der Gerontologie. Schon in den 90er Jahren wurde das Gleichgewichtstraining zu einem größeren Thema der Fitnesswelt, als – und Bosu-Bälle, Pads, Kissen und weitere Varianten von instabilen Untergründen, ihren Weg in die Fitnessstudios fanden.

Neben dem aktuellen Fakt, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit Stürze als zweitgrößte Ursache für Unfalltode(3) herausstellen konnte, ist es vor allem die jüngere Entwicklung des funktionellen Trainings, die das Thema erneut in den Vordergrund rückt. Auf der anderen Seite wird über das Gleichgewichtstraining noch nicht so tiefgründig gesprochen wie über das Kraft-, Ausdauer– oder Mobilitätstraining und vielen Menschen wird die Wichtigkeit des Gleichgewichtssystems erst dann klar, wenn dieses in seiner Funktion eingeschränkt oder sogar beschädigt wurde (z.B. Seekrankheit oder Morbus Menière). Diese Tatsache kann zum einen daran liegen, dass sich der Zusammenhang zwischen der sportlichen Leistungsfähigkeit und einem guten ausgeprägten Gleichgewichtssinn in den weitverbreiteten Sportarten wie Laufen, Schwimmen, Hand- oder Fußball nur allmählich etabliert und folglich in der Trainingsprogrammierung vernachlässigt wird. Zum anderen erfahren einige Sportler, Trainer und Therapeuten bis heute noch Balance als schwer greifbare Fähigkeit und wissen nicht genau, wie sie diese effizient trainieren können. Dafür ist es zunächst hilfreich den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gleichgewichtssystems genauer aufzuzeigen.

Um unseren Körper im Gleichgewicht zu halten sind die folgenden drei Systeme involviert:

– das visuelle System (Sinnesorgan: Augen).

das vestibuläre System (Sinnesorgan: innere Ohr).

– das propriozeptive System (oder auch Tiefensensibilität genannt): bestehend aus einer Vielzahl von Rezeptoren, die unter anderem mechanische Eingangssignale wie Zug- & Druckstimuli, in Muskeln, Gelenken, Sehnen und auf der Haut aufnehmen.

Das menschliche Gleichgewichtssystem

Abb. 1 – Das menschliche Gleichgewichtssystem   © Patrick Preilowski

Alle aufgenommenen Informationen dieser Teilsysteme werden in unserem zentralen Nervensystem (ZNS) zusammengeführt, integriert und verarbeitet. Die daraus kontinuierlich generierten Ausgangssignale leiten relativ komplexe und vielschichtige physiologische Anpassungen ein. Zusammengefasst dienen diese der Kontrolle des Körperschwerpunktes und damit einer effizienten, sicheren Körperhaltung und -Bewegung unter Berücksichtigung der Gravitation(4) (vgl. Abb.1). Die optimale Ausprägung kann also sicherstellen, dass wir uns mit kleinstmöglicher Vorbereitung in jede Richtung bewegen können – sei es nun die Einleitung eines schnellen Richtungswechsels im Sport oder die sturzvermeidende Gewichtsverlagerung im Alltag.

Ein kurzer Selbstversuch zur praktischen Verdeutlichung dieser drei Systeme.

Suche dir dafür eine freie, gerade Fläche und ziehe deine Schuhe aus:

– Test #1: Stelle Dich jeweils für 20sek auf ein Bein und blicke dabei mit neutraler Kopfposition nach vorn. Hier testen wir hauptsächlich das propriozeptive System – was deine Fußsohle, deine Gelenke und Muskeln empfangen und was dein ZNS daraus macht. Im Normalfall wird dein Sprunggelenk einige kleine lokale Bewegungen zeigen, die dich jedoch relativ stabil stehen lassen sollten.

– Test #2: Wiederhole nun den Aufbau von Test #1 und führe im Einbeinstand für 10sek eine 90° Rotation des Kopfes nach Rechts und dann für 10sek nach Links aus. Der Blick folgt jeweils.

Durch die Kopfbewegung kommt primär das vestibuläre System hinzu. Hier können sich schon einige Entwicklungsfelder in deiner Balancefähigkeit zeigen.

– Test #3: Wiederhole erneut den Aufbau von Test #1. Nun suchst du dir mehrere Blickpunkte aus, die du langsam mit deinen Augen abfährst, während dein Kopf in neutraler Position bleibt. Probiere zum Beispiel von oben-links diagonal nach unten-rechts zu schauen. Somit schließen wir das visuelle System auf einen von vielen möglichen Wegen in die Aufgabe ein (weitere wichtige Aspekte sind scharfe Zielfixierung bei gleichzeitiger Kopfbewegungen, Größe des peripheren Sichtfeldes, Nah-Fern-Fokussierung, Augenkonvergenz etc.). In diesem Test wird sich mit Sicherheit eine Kombination von Blickrichtung und Standbein gefunden haben, die merklich schlechter als die anderen funktioniert hat.

Vision & Balance Training mit Hilfe eines Targets

Bild 1: Vision & Balance Training mit Hilfe eines Targets

Der Zusammenhang vom visuellen System und unserem Gleichgewicht wird weiterhin deutlich, wenn während des Einbeinstands die Augen geschlossen und somit die Aufgaben gänzlich an die zwei anderen Systeme delegiert werden.

Die Integration dieser vielschichtigen Gleichgewichtsfertigkeiten in alltägliche und sportartspezifische Bewegungen verhelfen uns nicht nur auf kognitiv bzw. bewusster Ebene zu mehr Sicherheit, sondern existieren darüber hinaus eine Vielzahl an unbewussten Prozessen, die im ZNS entweder den Zustand von Sicherheit (bei störungsfreier Informationsintegrierung), oder von Gefahr (bei Informationskonflikten) signalisieren können. Letzteres kann abhängig vom Ausmaß sogar zu einem globalen Leistungsabfall führen, da das ZNS grundlegend die primäre Aufgabe verfolgt unseren Körper vor Verletzungen zu schützen und u. a. die Inhibition von Muskeln als Schutzmechanismus einsetzen kann(5).

Nach der Vorstellung aller drei Teilsysteme stellt sich nun die Frage, wie diese Defizite zustande kommen und was wir letztendlich dagegen tun können. Vergangene und akute Verletzungen, Krankheiten und das Alter sind zunächst wichtige Faktoren, welche die Funktion unseres Gleichgewichtssystems einschränken bzw. stören können. In den häufigsten Fällen sind es jedoch die Dinge und Situationen in unserem alltäglichen Leben, wie die zeitintensive und einseitige Nutzung von Computer- und Smartphone-Bildschirmen, die hauptsächlich sitzend vollrichtete Arbeitsbeschäftigung und das weitreichende Ausbleiben von abwechslungsreicher Bewegung in der Freizeit. Es benötigt keiner wissenschaftlichen Erhebung um herauszustellen, welche Kopf- & Augenposition größtenteils über den Tag eingenommen werden und welche teils gänzlich aus dem Repertoire verschwunden sind (Man denke nur an den Schulterblick beim Autofahren). Dabei gilt auch für das Gleichgewichtssystem die Maxime aller anderen physiologischen Systeme: Use it or lose it!

Wie also können wir Balance unter Berücksichtigung alle Teilsysteme trainieren?

Ist hierfür die Nutzung von instabilen Untergründen eine gute Idee? Eher nicht. Denn zum einen wissen wir heute, dass unser Bewegungssystem so komplex und spezifisch arbeitet, dass wir nur in exakt der Bewegung besser werden, die wir auch trainieren (vgl. das SAID Prinzip ). Dies bedeutet im Falle der instabilen Untergründe: wir werden nur auf instabilen Untergründen besser und ein direkter Transfer in den Sport oder Alltag bleibt aus (als Anregung sind an dieser Stelle weitere Trends wie Power Plate und EMS zu nennen). Es gibt hierzu ausreichend Studien, welche die Vorteile des Trainings auf stabilen Untergründen herausstellen konnten(7,8). Zum anderen zielt dieser Trainingsansatz nur auf die Förderung des propriozeptiven Systems ab. Mit dem Wissen über das enge Zusammenspiel aller Teilsysteme werden dadurch nicht nur das visuelle und vestibuläre System im Training vernachlässigt, sondern auch der wichtige Prozess der Integration und der Verarbeitung der Signale der jeweiligen Systeme im ZNS gänzlich ausgeklammert.

Ganzheitliche Gleichgewichtsübungen

Ähnlich wie bei den vorrangegangen Tests geht es zunächst um die fundamentalen, primitiven Funktionsfähigkeiten der einzelnen Teilsysteme. Als Aussicht und unter Berücksichtigung des Prinzips der progressiven Belastungssteigerung und der Variation, des SAID Prinzips und der „Safety first“- Maxime, können und sollten die Übungen allmählich dem sportartspezifischen oder alltagsspezifischen Anforderungshorizont angepasst werden(9):

1. Auf propriozeptiver Ebene kann die Ausgangslage wie folgt progressiv variiert werden:

a) liegend

b) sitzend

c) zweibeiniger Stand

d) leichter Ausfallschritt

e) Einbeinstand

f) Gehen und spezifischere Bewegungen (Squats, Pushups etc.)

g) Augen schließen

2. Auf visueller Ebene kann wie folgt progressiv variiert werden:

a) Augenbewegung mit fixierter neutraler Kopfposition (auf-ab/links-rechts/diagonal)

b) Augenfixierung auf ein Target und gleichzeitiger Kopfbewegung

c) Augenbewegung und Kopfbewegung gleichzeitig und konträr zueinander

3. Auf vestibulärer Ebene können folgende Bausteine progressiv variiert werden:

a) Rotation des Kopfes

b) „Auf und Ab“ – Bewegungen des Kopfes

c) „Vor und Zurück“ – Schiebung des Kopfes

d) diagonale Bewegungen des Kopfes

4. Die Kombinierung der Bausteine in jeglicher Variation und der eigenen funktionellen Kapazität entsprechend, fördert die Integration und Verarbeitung der Signale im ZNS.

Auch im Kraft- & Ausdauertraining sollte die Augen- & Kopfposition mit berücksichtigt werden

Auch im Kraft- & Ausdauertraining sollte die Augen- & Kopfposition mit berücksichtigt werden

An dieser Stelle können Yogis Überschneidungen zu einigen ihrer klassischen Übungen und Praktiken erkennen (u. a. die einbeinige Tree Pose, die Blickanleitung und Schließung der Augen). Die hier angeführten Erkenntnisse sind nicht nur in der Programmierung des Warmups, sondern auch in den Hauptteilen der Kraft- oder Ausdauertrainings integrierbar. Vor allem mit Hilfe eines Partners kann bei jeder Bewegung bewusster auf die Augen- & Kopfposition geachtet und Rückschlüsse auf die Signalqualität und –verarbeitung gemacht werden. Bespielhafte Leitfragen dafür sind:

a) Wie nehme ich mein peripheres Sichtfeld beim Laufen wahr?

b) Warum halte ich mein Kopf schief, wenn die Übung anstrengender wird?

c) Kompensiert die Kopfüberstreckung beim Deadlift meine fehlende Augenbewegung?

d) Ist meine Balance nach dem Training besser oder schlechter?

Fazit:

Unser Gleichgewichtssystem besteht aus drei Teilsysteme: Das visuelle, das vestibuläre und das propriozeptive System. Für jedes gilt: Use it or lose it!

Das Trainingsprinzip des spezifischen Reizes (SAID Prinzip) besagt, dass wir nur exakt in der Bewegung besser werden, die wir auch trainieren. Demnach werden wir bei Nutzung von instabilen Untergründen nur besser auf instabilen Untergründen und der direkte Transfer in den Sport oder Alltag bleibt aus.

Instabile Untergründe zielen zudem nur auf das propriozeptive System ab.

Balance bedeutet für das ZNS Sicherheit. Sicherheit bedeutet globale Leistungssteigerung!

Ein ganzheitliches Gleichgewichtstraining sollte unterschiedliche Körper-, Augen- & Kopfbewegungen und deren Kombination beinhalten.

Autor: Patrick Preilowski

Patrick Preilowski ist diplomierter Sportwissenschaftler und in den Forschungs- und Anwendungsfeldern der körperlichen Schmerzwahrnehmung und Leistungsfähigkeit aktiv. Als Mitbegründer vom Training und Coaching Konzept „Out Of The Box“ hat er sich auf die tiefgreifende Trainingssteuerung und Betreuung von Berufsportlern spezialisiert.

Quellen:

(1)Hrysomallis C. Balance ability and athletic performance. 2011 Mar 1;41(3):221-32.

(2)San Diego (CA): Singular Publishing Group, 1997: 261-79 2. Hrysomallis C. Relationship between balance ability, training and sports injury risk. Sports Med 2007; 37 (6): 547-56 3.

(3)http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs344/en/ (Zugriff: 29.02.16)

(4)Shumway-Cook A, Woollacott MH. Motor Control: Theory and Practical Applications. Philadelphia: Lippincott, Williams & Wilkins; 2001.

(5)Todd R. Hargrove. A Guide to Better Movement: The Science and Practice of Moving With More Skill And Less Pain – 21. Mai 2014 , S. 8

(6)http://www.bettermovement.org/blog/2009/0110111 (Zugriff 29.02.16)

(7)Cressey, E.M., et al. (2007). The effects of ten weeks of lower-body unstable surface training on markers of athletic performance. J Str Cond Res. 21(2): 561-567.

(8)Behm DG, Anderson K, Curnew RS (2002). Muscle force and activation under stable and unstable conditions. J Str Cond Res. 16: 416-422.

(9)In Anlehnung an die Informationen, die Dr. Eric Cobb (Chiropraktiker, Neuroexperte und Gründer von Z-Health Performance) in seinem Blog bereitstellt: http://zhealtheducation.com/category/blog/

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