Wann darf eine Frau nach der Entbindung wieder mit dem Training beginnen und welche Übungen eignen sich für den Sport nach der Schwangerschaft besonders gut? Dr. Markus Klingenberg, Orthopäde, Trainer und junger Vater, gibt Antworten auf diese Fragen.
Der manchmal öffentlich zur Schau getragene „After-Baby-Body“ diverser Stars und Influencerinnen entspricht nicht dem der meisten Mütter. Die häufig mit Filtern bearbeiteten Fotos in den sozialen Medien können bei Müttern den Eindruck erwecken, nur sie hätten noch nicht ihre „alte Figur“ wieder zurück. Allerdings ist dieser Druck wenig hilfreich für den Weg zurück zum eigenen Wohlfühlkörper.
Wie lange dauert es bis der Beckenboden trainiert ist?
Im Rahmen der Rückbildungsgymnastik wird speziell der Beckenboden mit gezielten Übungen trainiert. Was passiert, wenn dieses Training nicht ausreicht oder die Belastungen im Alltag oder beim Training zu hoch sind? Typische Symptome sind unkontrollierter Urinverlust, Rückenschmerzen, ein Druckgefühl im Unterbauch oder Schmerzen beim Sex. Das sind nicht unbedingt Themen, über die eine Frau mit jedem Trainer spricht, jedoch kann der Trainer diese Aspekte bei einem guten Vertrauensverhältnis gezielt ansprechen. Zusätzlich sollte er von sich aus auf intensive Laufbelastungen, maximale Kraftbelastungen und „Jumping“ verzichten.
Sport nach der Schwangerschaft – wichtige Aspekte
Nach einer unkomplizierten Geburt können Mütter etwa sechs bis acht Wochen danach wieder mit einem gezielten Training beginnen. In den ersten Wochen stehen die Rückbildung und die Anpassung an die neue Lebenssituation im Vordergrund. Intensiverer Sport nach der Schwangerschaft sollte erst anschließend erfolgen. Der Trainingserfolg junger Mütter hängt nach meinen Erfahrungen von folgenden wesentlichen Faktoren ab:
- Individuelle Besonderheiten: Der Körper der Frau verändert sich während der Schwangerschaft und einige dieser Veränderungen werden ohne Training bestehen bleiben. Ein einfaches Beispiel: die veränderte Fußstellung und/oder Schuhgröße. Auch ihre sportliche Vorgeschichte, ihr Trainingszustand in der Schwangerschaft und der Verlauf der Geburt sind relevant für die Belastbarkeit nach der Schwangerschaft.
- Klare Ziele: Es benötigt ein klar definiertes Ziel – das kann die Ausübung einer bestimmten Sportart oder das Erreichen einer bestimmten Figur sein. Eine Geburt verändert aber häufig die Prioritäten im Leben der Mutter. Deshalb ist es für Trainer wichtig, diesen Punkt gemeinsam mit der Kundin zu besprechen.
- Energiemanagement: Der beste Trainingsplan bringt uns nichts, wenn wir zu müde oder kraftlos sind, um ihn umzusetzen. Gerade Müdigkeit ist in den ersten Monaten nach einer Entbindung häufig ein ständiger Begleiter. Deshalb sollte der Trainer bei Müttern das Thema „Regeneration“ im Fokus behalten.
- Zeitmanagement: Zeit für sich selbst ist ein weiterer wichtiger Faktor – gerade mit einem kleinen Kind. Der Trainer kann die Mutter durch Übungen für zu Hause unterstützen. Fitnessstudios mit einer gut funktionierenden Kinderbetreuung sind für Mütter (und Väter) Gold wert!
- Variabler Trainingsplan: Je flexibler ein Trainingsplan in puncto Zeit und Ort ist, umso besser. Ich arbeite viel mit dem Konzept „3 x 3 Matrix“. Drei Übungen für unterschiedliche Körperregionen absolviert man ohne Pause hintereinander – und das am besten dreimal.
Funktioneller Sport nach der Schwangerschaft
Ein funktionelles Training soll auf eine bestimmte Belastung vorbereiten. So sieht das funktionelle Training eines Fußballspielers anders aus als das eines Freeclimbers, weil die Belastungsprofile sehr unterschiedlich sind. Der Alltag von Müttern ist geprägt durch ein häufiges einseitiges Heben und Tragen. Dabei wird das Baby nicht regelmäßig im Wechsel getragen, sondern meistens – bei Rechtshänderinnen – einseitig links.
Drei wichtige Bewegungsmuster
Nachfolgend stelle ich drei wichtige Bewegungsmuster für funktionellen Sport nach der Schwangerschaft vor. Übungen für den Beckenboden und die Rumpfmuskulatur sollen selbstverständlich als Grundlage ebenfalls absolviert werden.
1. Tragen und Heben
Das Gewicht des Kindes steigt binnen weniger Monate deutlich an. Zusätzlich kommt häufig das Gewicht einer Babyschale fürs Auto hinzu und wir sind innerhalb kurzer Zeit schnell bei einem Gewicht von 5 bis 10 kg. Dabei kann eine Überlastung beim Tragen kann nicht nur zu Rückenbeschwerden führen, sondern auch den Beckenboden belasten und dadurch eine Inkontinenz hervorrufen. Deshalb halte ich ein wohldosiertes Training von Heben und Tragen mit alltagsrelevanten Gewichten für funktionell und notwendig.
Ein allgemeines Trainingsprinzip lautet: vom Einfachen zum Schweren. Besser ist es, wie beim klassischen Kreuzheben einen Gegenstand mit beiden Händen und entsprechender Beinbewegung anzuheben. Erst wenn man diese Ausführung beherrscht, kann eine Progression erfolgen. Das Techniktraining kann zunächst mit einem Besenstil oder einer unbeladenen Langhantel erfolgen. So können Mobilität, Rumpfspannung, Koordination und Atmung schonend, aber effektiv trainiert werden. Ist der Bewegungsablauf stimmig, wird langsam das Gewicht gesteigert, idealerweise etwas über das Alltagsgewicht hinaus. Im nächsten Schritt sollte die Ausführung dann anspruchsvoller werden. Auf diese Weise werden zu hohe Trainingsgewichte vermieden und das Training wird alltagstauglich.
2. Einseitige und rotierende Belastung
Das Baby trägt man im Alltag meist einseitig. Daher sollte man auch unilaterale Übungen trainieren und wenn das klassische Kreuzheben beherrscht wird, kann zuerst einbeinig/beidhändig und dann einbeinig/einhändig trainiert werden. Auf diese Weise werden viele Fähigkeiten gleichzeitig trainiert. Ein einbeiniges Training stärkt besonders die Fußmuskulatur und die seitliche Hüftmuskulatur. Auf einem Bein stehend und mehr noch bei Ausführung mit einem Arm wird im gesamten Körper eine Antirotation trainiert. Das gleiche Prinzip gilt auch für einseitiges Ziehen und einseitiges Tragen. Kreuzheben, Ziehen zur Brust und Tragen sind drei gute Beispiele für funktionelle Übungen nach der Schwangerschaft. Ist eine ausreichende Stabilität bei einseitig ausgeführten Übungen gegeben, sollte man auch gezielt rotierend trainieren. Jeder, der sein Kind regelmäßig in einen Kindersitz im Auto heben muss, weiß, dass dazu oftmals eine Kombination aus Heben und Rotieren gefragt ist. Motivierende Übungen sind z. B. mit einem Medizinball oder an einem Seilzug möglich.
3. Mobilität und Stabilität der Brustwirbelsäule
Durch die nach vorn gebeugte Haltung beim Stillen, Füttern und Wiegen etc. leiden viele Mütter unter Nacken- und Rückenschmerzen. Diesen kann man durch eine Verbesserung der Mobilität der Brustwirbelsäule und ein Training der aktiven Aufrichtung entgegengewirken. Neben entsprechenden Übungen im Rahmen des Trainings sollten auch im Alltag immer wieder Übungen zur Verbesserung der Mobilität durchgeführt werden. Ein einfacher Tipp ist auch das bewusste aufrechte Gehen. Durch die Konzentration auf eine tiefe Bauchatmung wird nicht nur die Haltung verbessert, sondern auch Stress reduziert. Einfache Übungen für ein funktionelles Training der aufrechten Körperhaltung sind beispielsweise der Einbeinstand und das Tragen eines geringen Gewichts mit gestrecktem Arm über dem Kopf.
Die richtige Belastungsintensität
Eine Schwangerschaft läuft in bestimmten Phasen ab; hierfür verwende ich gern das Bild von einer Ampel. Zu Beginn ist körperlich beinahe alles möglich und wir befinden uns in der „grünen“ Phase. Mit der Zeit schränken sich die körperlichen Möglichkeiten zunehmend ein („gelb“). Schließlich fallen bestimmte Belastungen wie beispielsweise Joggen und Sprünge vollständig weg („rote Phase“). Nach der Schwangerschaft verhält es sich umgekehrt. In der Phase der Rückbildung („rot“) ist die Belastbarkeit sehr eingeschränkt und verbessert sich anschließend Schritt für Schritt über gelb bis in den grünen Bereich, in dem wieder alle Belastungen möglich sind. Wie lange die einzelnen Phasen dauern, ist von Frau zu Frau unterschiedlich. Wer vor der Entbindung lange Zeit trainiert hat und sehr fit war, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch nach der Schwangerschaft schneller wieder fit zu werden.
7 Top Übungen für den Sport nach der Schwangerschaft
Die folgenden sieben Übungen gehören zu meinen Favoriten. Die Schwierigkeit der Ausführungsvarianten kann man beliebig an den aktuellen Trainingszustand der Frau individuell angepassen:
- Beckenlift
- Seitstütz
- Diagonales Heben von Arm und Bein aus dem Vierfüßlerstand
- Ziehen zur Brust
- Kreuzheben
- Tragen
- Kettlebell Swing
Fazit
Das Absolvieren eines gut strukturierten Fitnesstrainings, das die besonderen Bedürfnisse und Bewegungsmuster einer jungen Mutter berücksichtigt, ist nach der Schwangerschaft für die meisten Frauen sehr gut möglich. Der Trainer kann hierbei für Mütter eine wichtige Rolle übernehmen. Zusätzlich wirken Eltern mit ihrem Bewegungverhalten über Jahre als Vorbild für ihre Kinder. Deshalb stellen Kinder einen wunderbaren Grund dar, selbst mehr für die eigene Fitness zu tun. So kann man viele Jahre lang gemeinsam mit ihnen aktiv sein. Es liegt maßgeblich in den Händen der Eltern, welche positiven Bewegungsgewohnheiten ihre Kinder erlernen.
Autor und Sportexperte: Dr. med. Markus Klingenberg
Der Personal Trainer und Facharzt für Orthopädie/ Unfallchirurgie, Sportmedizin, Manuelle Therapie, Notfallmedizin, Ernährungsmedizin, Gesundheitsvorsorge und Prävention arbeitet als Orthopäde und Sportmediziner in Bonn und betreut zahlreiche Spitzensportler.
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