Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet: Aktuellen Erhebungen zufolge sind von allen 18- bis 79-jährigen Erwachsenen in Deutschland etwa 30 Prozent von psychischen Erkrankungen betroffen, insbesondere von Depressionen, Angststörungen, Sucht- und Demenzerkrankungen. Prof. Dr. Oliver Stoll erklärt im Interview, warum Sport und Bewegung für die Behandlung so wichtig sind und was Fitnesstrainer im Umgang mit Betroffenen beachten sollten.
Inhaltsverzeichnis
- Welche Arten psychischer Erkrankungen gibt es?
- Wie wirkt sich Sport auf die Psyche des Menschen aus?
- Was ist Sportpsychologie?
- Welcher Sport hilft bei psychischen Erkrankungen?
- Kooperationen zwischen Fitnessstudios und Psychologen
- Tipps für Sport bei psychischen Erkrankungen
Psychische Erkrankungen – Welche Arten gibt es?
Prof. Oliver Stoll: Das medizinische Klassifikationssystem ICD unterscheidet insgesamt zehn Arten. Zum einen gibt es die organischen Störungen, die z. B. nach Verletzungen am Kopf auftreten. Dann solche Störungen, die durch Drogenkonsum oder psychotrope Substanzen entstehen. Es gibt die Schizophrenie und den großen Bereich der affektiven Störungen – alles, was mit Depressionen und emotionalen Störungen zu tun hat. Außerdem gibt es Neurosen, Belastungsstörungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen – etwa die narzisstische Persönlichkeitsstörung oder das Borderline-Syndrom –, Intelligenz- und Entwicklungsstörungen und bestimmte Störungen, die nur in Kindesalter und Jugend vorkommen.
Als Sportpsychologe betreue ich hauptsächlich Athleten aus dem Leistungssport, bei denen ich teils psychische Beschwerden feststellen kann. Das sind meist affektive Störungen rund um Depressionen oder depressive Verstimmungen oder Aspekte, die mit psychotropen Substanzen zu tun haben, z. B. die Einnahme von Dopingmitteln. Auch Belastungsstörungen treten häufig auf, wenn die Athleten körperlich wie mental überlastet sind. Hinzu kommt, dass bestimmte Sportarten von ihren Anforderungen her bestimmte Erkrankungen begünstigen: Im Turnen, der rhythmischen Sportgymnastik und dem Langstreckenlauf z. B., wo ein geringes Gewicht des Sportlers im Fokus steht, treten häufig Essstörungen auf.
Wie wirkt sich Sport auf die Psyche des Menschen aus?
Prof. Oliver Stoll: Hier lässt sich unterscheiden in kurzfristige und langfristige Effekte. Die kurzfristige Wirkung ist, dass man sich nach dem Sport besser fühlt als davor; wir sprechen vom Stimmungseffekt. Dieser tritt vor allem bei Sportarten auf, die nicht ergebnisabhängig sind und bei denen keine Wettkampfsituation besteht. Das Stimmungshoch hält ca. vier Stunden an und verschwindet dann wieder. Der langfristige Effekt macht sich auf der Persönlichkeitsebene bemerkbar. Man fühlt sich selbstbewusster, wenn man über längere Zeit, etwa ein halbes Jahr, regelmäßig Sport treibt, bekommt eine positivere Einstellung zu sich selbst und seinem Körper. Alles, was darüber hinausgeht, ist schwierig nachzuweisen, wie z. B. der Antidepressiva-Effekt. Bei Depressionen gehört die Lauftherapie zum Standard-Behandlungsprogramm dazu, ein therapeutischer Effekt wird dabei also erwartet. Bei gesunden Menschen wird ein solcher Effekt nicht erwartet und kann nicht als allgemeingültig angesehen werden.
Was versteht man unter Sportpsychologie?
Prof. Oliver Stoll: Die Sportpsychologie lässt sich in drei Felder unterteilen. Die Sportpsychologie als Forschungsfeld setzt Grundlagenforschung um; so untersucht sie z. B. im Kontext von Sport den Antidepressiva-Effekt auf bestimmte Erkrankungen. Die angewandte Sportpsychologie beschäftigt sich mit der praktischen Anwendung, etwa dem Coaching von Athleten. Sie greift dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurück, die in der Anwendung reflektiert werden.
Die rein praktische Sportpsychologie setzt nicht auf wissenschaftliche Methoden, sondern hier funktioniert viel über das Ausprobieren, etwa Entspannungstraining oder Visualisierungsübungen. Im Bereich der angewandten Sportpsychologie spielen Leistungs- und Wettkampfsport eine große Rolle; die Leistungsoptimierung steht im Vordergrund. Außerdem gibt es noch den gesundheitspsychologischen Bereich, in dem sich die Sportpsychologie mit Bewegung und ihrer Wirkung auf die Psyche auseinandersetzt.
Welcher Sport hilft gegen psychische Erkrankungen?
Prof. Oliver Stoll: Man muss unterscheiden, was vorrangig erreicht werden soll: ein physiologischer oder ein psychischer Effekt. Bei Adipositas wissen wir z. B., dass Sport, Spiel und Bewegung dabei helfen, den Grundumsatz zu steigern und schließlich das Gewicht zu reduzieren. Der psychische Effekt wird etwa bei der Lauftherapie für Depressive deutlich: Die Symptome verschwinden für einen gewissen Zeitraum oder werden zumindest abgemildert. Im Bereich der psychopathologischen Störungen kommt eine Sporttherapie am häufigsten zum Einsatz; sie spielt dabei im Gesamttherapiekontext eine große Rolle.
Im präventiven und therapeutischen Bereich ist im Prinzip jede Sportart möglich. Wichtig ist, keine zu hohe Intensität zu wählen. Der Sport sollte nicht wettkampforientiert, sondern ergebnisfrei sein, weil eine Niederlage oder der Vergleich mit den Leistungen anderer stark auf die Stimmung schlagen kann. Es bietet sich eigentlich jeder wettkampffreie Sport an, der Spaß macht, vielleicht auch in Gemeinschaft, sowie Sport, für den man kaum eine Infrastruktur benötigt; die Klassiker sind Radfahren, Laufen und Wandern, weil sie einfach umzusetzen sind. Aber auch Sport, der in der Schwimmhalle stattfindet, empfiehlt sich.
Empfehlen sich Kooperationen zwischen Fitnessstudios und Psychologen, um psychische Erkrankungen zu behandeln?
Prof. Oliver Stoll: Fitnessstudios besitzen in der Regel eine gute Infrastruktur, sind gut ausgestattet und haben im Idealfall speziell ausgebildete Mitarbeiter oder Sporttherapeuten, die erkrankte Menschen beraten können. Psychologische Kenntnisse sind natürlich von Vorteil. Es gibt Ausbildungsinstitute und Verbände, die Trainer speziell im Bereich der psychischen Erkrankungen schulen. Es ist auch immer eine gute Idee, sich zu vernetzen. Ärzte, Psychotherapeuten und speziell geschulte Mitarbeiter können in Zusammenarbeit dafür sorgen, dass Patienten es nicht übertreiben oder sich ihre Symptome sogar noch verschlimmern.
Wie sollten psychisch Erkrankte das Thema „Sport“ angehen?
Prof. Oliver Stoll: Gerade Einsteiger sollten ein zu intensives Training vermeiden, da die Verletzungsgefahr anfangs recht hoch ist. Bei psychisch Erkrankten sollte stets ein qualifizierter Betreuer dabei sein, der sich mit den Beschwerden auskennt. Ich rate davon ab, zu schnell zu viel zu wollen. So lassen sich mentale Rückschläge vermeiden, wenn der gewünschte Erfolg nicht eintritt. Es lohnt sich, moderat und wettkampffrei zu beginnen. Wenn dann ein bestimmtes Niveau erreicht ist, kann man sich langsam steigern, die Belastung anpassen oder sich auch an Sport mit Wettkampfsituation herantasten.
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Interview mit: Prof. Dr. Oliver Stoll, Leiter des Arbeitsbereichs Sportpsychologie, Sportpädagogik & Sportsoziologie, Universität Halle