Biokinematik: So funktioniert exzentrisches Schmerzreduktionstraining

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Die Biokinematik beschäftigt sich mit der Frage, wie chronische Schmerzen entstehen und wie man sie behandeln kann. Erfahre hier, mit welchen Übungen du den Körper eines Klienten, der seine natürliche Bewegungsfähigkeit verloren hat, wieder gezielt ins Gleichgewicht bringen kannst und wie sich Schmerzen im Bewegungsapparat vorbeugen lassen.

Was ist Biokinematik?

Der Begriff „Biokinematik“ stammt aus der Bewegungswissenschaft und findet sowohl in der der Biologie, der Sportwissenschaft und der Sportmedizin, als auch in der Veterinär- und Humanmedizin Anwendung. Dabei wendet man die Lehre von den bewegten Körpern aus der Mechanik auf lebende Objekte. Das Wort selbst setzt sich zusammen aus „Bio“, was für den biologischen Organismus unseres Körpers steht, und „Kinematik“, die Lehre von den Bewegungen. Frei könnte man den Begriff als das funktionelle Bewegen der Gelenke bezeichnen. Die Lehre der Biokinematik gründet auf der Erkenntnis, dass chronische Schmerzen, die z. B. bei Arthrose oder nach einem Bandscheibenvorfall auftreten, durch krankhafte Veränderungen des Bewegungsapparats entstehen.

Biokinematische Übungen orientieren sich an endgradigen Gelenkpositionen mit aktiver Stabilisation über die antagonistische Muskulatur mit und ohne Bewegung. Infolge ihrer besondere Wirkungsweise stellen biokinematische Übungen eine Methode gegen die Symptome des Bewegungsmangels dar und dienen gleichzeitig der Schmerzreduktion. Der moderne Mensch vernachlässigt vieles, was seinen Körper aktiv hält. Er bewegt sich schlichtweg zu wenig, was sich in verklebten Faszien, Bewegungseinschränkungen, passiv hypertonen Muskeln und einer nicht mehr adäquat aktiven Stabilisationsfähigkeit manifestiert. Die Folgen sind Schmerzen entweder akuter oder chronischer Natur, die die Lebensqualität erheblich einschränken.

Was passiert bei Bewegungsmangel im Körper?

Ein Mensch mit sitzender Tätigkeit „versitzt“ am Tag zwischen 10 und 16 Stunden – die Fahrt zur Arbeit, jegliche Essensaufnahme, Theater, Kino, Fernsehen, private Computerarbeiten usw. mit inbegriffen – mit dem Ergebnis einer ständigen Krümmung aller Strukturen der Körpervorderseite (Flexion im Kniegelenk, Flexion in der Hüfte, Flexion der Wirbelsäule, Innenrotation und Adduktion der Arme sowie Abduktion der Schulterblätter). Durch diese krumme Haltung spannen sich die Muskeln und Sehnen an, was wiederum zur Folge hat, dass die vorderen und seitlichen Faszienlinien „verfilzen“ – vergleichbar mit zu heiß gewaschener Baumwolle – und ihre Viskosität verlieren. Außerdem wird der gesamte Stoffwechsel stark beeinträchtigt, die Muskeln werden passiv hyperton, „machen zu“ und verspannen. Die damit einhergehende Minderdurchblutung kann in der Folge zu mehr oder weniger starken Schmerzen führen.

Wenn wir in unseren Studios mit Gesundheitssportlern jeden Alters, aber auch mit Schülern an Sportschulen (angehenden Sport- und Gymnastiklehrern, Leistungssportlern im Alter von circa 20 Jahren) Kraft- und Beweglichkeitstests durchführen, treten die Defizite, die u. a. der Bewegungsmangel und einseitige sportliche Betätigung hervorruft, deutlich zutage. Der herkömmliche trainingsphysiologische Ansatz, diese Probleme zu bewältigen, liegt meist in einem ganzheitlichen Trainingsprogramm aus Kräftigungs- und Dehnübungen – kombiniert mit aktuell „hippen“ Faszienübungen. Diese Programme sind sicherlich geeignet, für Linderung zu sorgen, reichen aber nicht weit genug.

Was ist exzentrische Muskelarbeit?

Vor allem der Bereich der Bewegungsreichweite bei gleichzeitig aktiver muskulärer Gelenkstabilisation wird in vielen Trainingskonzepten und mit klassischen Dehntechniken nicht ausreichend berücksichtigt. Die Übungseffekte verpuffen, da sie nicht oft genug und nicht mit der richtigen Intensität durchgeführt werden. Außerdem geht es bei den klassischen Dehntechniken immer darum, dass der zu dehnende Muskel locker lässt, also den Befehl bekommt, zu entspannen.

Dies ist ein wichtiger neurologischer Aspekt. Aus unserer Sicht ist es aber unabdingbar, den Muskel auch unter Anspannung zu dehnen und dadurch gleichzeitig für eine sichere und aktive Gelenkstabilität zu sorgen. Dies entspricht einer exzentrischen Arbeitsweise in der Endposition. Die exzentrische Arbeit des Muskels sorgt für eine hohe Aktivität, die Endposition sorgt dafür, dass der Muskel und das dazugehörige Fasziengewebe eine maximale Längung unter Belastung der exzentrisch belasteten Muskulatur erfahren. Diese Kombination verbindet Kraft und maximale Beweglichkeit miteinander.

Wie funktioniert Biokinematik?

Eine Bewegung führen in erster Linie immer Muskeln aus. Diese sind keine starren Elemente, sondern die Faktoren, die eine perfekte Bewegungsbahn verantworten; sie sind ein wesentlicher Faktor für die Begrenzung von Bewegungen und auch der Faktor für die fehlende aktive Stabilisierung der beteiligten Gelenke. Werden aktive Bewegungen ausgeführt, gibt es immer einen aktiven und einen passiven Muskel. Vereinfacht: Kontrahiert ein Muskel (diese Muskeln sind die Agonisten und Synergisten), muss sich der Gegenspieler dehnen und locker lassen (passiv, Antagonist).

Liegen im passiven Muskel innere Störungen vor, z. B. koordinativer Art oder Verfilzungen, Vernarbungen o. Ä., wird die Kontraktionsbahn des aktiven Muskels ihrerseits gestört. Die Folge: Das Gelenk wird nicht wie vorgesehen geführt, sondern vom Antagonisten zu einer Bahnabweichung gezwungen. Der hypertone bzw. gestörte Antagonist hemmt zusätzlich die Kraftentwicklung des Agonisten und seiner helfenden Synergisten. Auf Dauer kommt es so zu muskulären Dysbalancen und im Laufe der Zeit dann zu Schmerzen.

Schmerzreduktion durch ganzheitliche Bewegungen

Oft wird nun der aktive Muskel, der keinerlei Einschränkungen aufweist, als schmerzhaft empfunden, während der passive Muskel, der die Bewegung einschränkt und hemmt, als nicht schmerzhaft wahrgenommen wird. Letzterer ist jedoch für die Fehlfunktion verantwortlich. Werden Muskelkettenübungen durchgeführt, sind immer mehrere Gelenke und dadurch auch viele Muskeln beteiligt. Dennoch werden nur einzelne Muskeln wahrgenommen.

Warum? Eine Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Ist ein Kettenglied funktionell eingeschränkt, müssen andere Muskeln in die Bresche springen und Mehrarbeit leisten oder aber gebremst werden, um den kranken Muskel nicht zusätzlich zu schädigen. Ist in der Muskelkette die passive Muskulatur gestört, macht es Sinn, diese exzentrisch aktiv an der Bewegung zu beteiligen. Durch gezielte Anspannung unter Dehnung wird nicht nur die Reichweite im Gelenk verbessert, sondern auch die Aktivierung des Muskels durch neuronale Adaptionen gefördert und Schmerz vermindert.

Welche Vorteile bietet der biokinematische Ansatz?

  • Effektivere exzentrische Muskelarbeit (bessere Rekrutierung)
  • Alltagsrelevanz (Treppen hinaufsteigen oder heruntergehen, Kisten abstellen u. Ä.)
  • Biokinematik ist energiesparend: niedrigere Laktatwerte und niedrigere Herzfrequenzwerte als bei auxotonischen Übungen
  • Förderung der aktiven Gelenkstabilität
  • Aktive Förderung der Beweglichkeit
  • Mehrdurchblutung der Muskulatur dank dynamischer Übungen
  • Aktive Sicherung der beteiligten Gelenke
  • Aktive und bewusste Bewegungskontrolle
  • Schulung der Körperwahrnehmung

Wie sieht die Umsetzung aus?

Man benötigt für ein biokinematisches Trainingsprogramm keine oder nur wenige Kleingeräte; eine Matte und Bänder reichen vollkommen aus. Das macht das Training nicht nur effektiv, sondern auch günstig für den Trainer. Exzentrisch betontes Schmerzreduktions- und Beweglichkeitstraining ist überall durchführbar. Der (Personal) Trainer übt mit seinem Kunden im Büro oder zu Hause, der Gymnastiklehrer im Groupfitnessbereich, der Fitnesstrainer in seinem Studio. Die Übungen können als ein in sich geschlossenes Programm angeboten oder punktuell in ein bestehendes Programm integriert werden.

Progression – Regression: Was tun bei Beschwerden?

Jede Übung kann man individuell auf den Kunden anpassen. Die Ausgangsposition wird je nach Zustand der Hüft- und Kniegelenke verändert oder durch Mattenrollen u. ä. entspannter gestaltet. Der Widerstand durch den Trainer oder durch Hilfsmittel wie Bänder wird je nach Gesundheitszustand und Leistungsstand verändert. Außerdem ist eine achtsame Durchführung des Trainings sowie das Feedback des Kunden sehr wichtig, um die Übungen optimal auf den momentanen Zustand des Teilnehmers anzupassen. Die Übungen sind so konzipiert, dass der Kunde sie jeweils alleine und auch assistiv durchführen kann, um sich langsam an ein intensiveres Training heranzutasten. Biokinematische Übungen sind sowohl für Leistungs- und Hobbysportler, als auch für Patienten mit künstlichen Hüftgelenken, Kniearthrose, LCA-Rupturen oder Schultergelenksproblemen geeignet. Ausschlaggebend ist dabei immer die optimale, auf den Kunden angepasste Intensität und Übungsauswahl.

Fazit

Dehntechniken fördern die Beweglichkeit und erweitern den ROM (Range Of Motion; Bewegungsamplitude). Sie fördern die Fähigkeit, den Befehl „Lass locker!“ wieder besser umsetzen zu können, und sollten daher unbedingt in jedes Trainingsprogramm integriert werden. Biokinematische Übungen sorgen zusätzlich für mehr Kontrolle sowie aktive Gelenk- und Wirbelsäulenstabilität bei gleichzeitiger maximaler Dehnung (Vergrößerung der Bewegungsamplitude). Außerdem kommt es zu einer deutlich spürbaren Schmerzreduktion. Modernes funktionelles Krafttraining in Muskelketten und Muskelschlingen mit sensomotorischen Reizen fördert zusätzlich die intermuskuläre Koordination, die allgemeine Stabilisationsfähigkeit und die Koordination. Eine Kombination dieser Bereiche verspricht maximalen Erfolg. Für den Bereich der biokinematischen Übungen bedarf es genauer anatomischer Kenntnisse, einer perfekten Anleitung und verschiedener Tools, um die Kunden effektiv zu betreuen und bei Bedarf Progressionen und Regressionen korrekt anzuwenden.

Biokinematik-Übung 1: Frontalöffner stehend

Biokinematik beschäftigt sich mit chronischem Schmerzen und wie man sie behandeln und die natürliche Bewegungsfähigkeit wiederherstellen kann

Diese Übung dehnt die Frontallinie. Alle beteiligten Gelenke werden aktiv muskulär stabilisiert. Folgende Muskeln werden in die maximale Längung gezogen: die Hüftbeugemuskulatur (vor allem der M. iliopsoas) und die komplette Abdominalmuskulatur. Anweisung:

  • Hüftbreiter Stand mit leicht außenrotierten Füßen, Dreipunktbelastung (Ballen, Außenkante und Ferse).
  • Die Knie sind endgradig gestreckt, der Oberkörper ist aufgerichtet, leichte Dehnung des M. rectus abdominis.
  • Das Brustbein nach vorn-oben ziehen, die Schulterblätter zusammenziehen.
  • Anschließend das Becken nach vorn schieben, ohne die Gesäßmuskulatur anzuspannen oder in eine Hyperlordose zu fallen.
  • Die Arme locker hängen lassen, sodass die vordere Muskelkette diese Position exzentrisch unter Spannung halten muss.

Biokinematik-Übung 2: Das Große C

Biokinematik beschäftigt sich mit chronischem Schmerzen und wie man sie behandeln und die natürliche Bewegungsfähigkeit wiederherstellen kann

Diese Übung dehnt die laterale Faszienlinie und ist für eine beweglichere Wirbelsäule und die exzentrische Dehnung der kompletten seitlichen Muskulatur. Alle beteiligten Gelenke werden aktiv muskulär stabilisiert. Dabei werden folgende Muskeln in die maximale Längung gezogen: der M. erector spinae, der M. quadratus lumborum, die Abdominalmuskulatur sowie der M. latissimus dorsi. Anweisung:

  • Hüftbreiter Stand mit leicht außenrotierten Füßen, Dreipunktbelastung.
  • Den Bauch und den Beckenboden anspannen.
  • Das Brustbein nach vorn-oben ziehen, die Schulterblätter zusammenziehen.
  • Den linken Arm gestreckt über den Kopf bringen.
  • Die Schulter zum Ohr ziehen und das Handgelenk abklappen.
  • Zum Stabilisieren das linke Knie durchstrecken und das rechte Knie leicht beugen.
  • Den Oberkörper maximal zur rechten Seite neigen, das Becken seitlich nach außen schieben, um die Dehnung zu verstärken.
  • Die rechte Hand zieht weiter nach unten. 3 bis 5 ruhige Atemzüge in dieser Position verbleiben.

Um den Dehneffekt zu verstärken, kann man auch ein Band verwenden.

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Autoren:

Kurt Stübel: Der mehrfache Buchautor ist Inhaber des Aus- und Weiterbildungsinstituts Glucker-Kolleg, seit 30 Jahren Dozent an der staatlich anerkannten Sportschule Glucker in Kornwestheim, Chefausbilder der KddR Rückenschule und PT-Experte.

Tim Späth ist staatlich anerkannter Sport- und Gymnastiklehrer, Dozent für EMS-Training und Ausbilder Biokinematik beim GluckerKolleg.

www.gluckerkolleg.de

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Über den Autor

Trainingsworld

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