Der australische Physiotherapeut Sean Fyfe erklärt, wie Sie als Radfahrer das Verletzungsrisiko minimieren, indem Sie Körper und Fahrrad in Schuss halten.
Radfahren ist in seinen Auswirkungen eher positiv als negativ. Da die Anprallkräfte nur gering sind, gibt es vielen Menschen, die sonst nur mit Schwierigkeiten regelmäßig trainieren könnten, die Möglichkeit, gesund und aktiv zu bleiben. Nichtsdestotrotz kommt es dabei zu Verletzungen. Eine gründliche Kenntnis der Funktionsweise des Körpers während des Radfahrens sowie der Fahrradausrüstung kann das Verletzungsrisiko herabsetzen
Akute Verletzungen
Für jeden aktiven Radfahrer bedeutet das Training auf der Straße die Akzeptanz des Risikos einer ernsthaften Verletzung aufgrund der Risikofaktoren Fahrrad und Geschwindigkeit. Zu einer Vielzahl orthopädischer Verletzungen kommt es bei Hochleistungsunfällen. Dabei sind die Kopfverletzungen von größter Wichtigkeit. Aufgrund von tödlichen Verletzungen während Radrennen wurde vor einigen Jahren der Gebrauch von Helmen bei der Tour de France, bis auf den letzten Anstieg in den Bergen, zur Pflicht gemacht.
In Australien besteht für alle Radfahrer (vom ganz gewöhnlichen Radfahrer bis zum Radrennfahrer) Helmpflicht. Wird dieser nicht nachgekommen, fallen saftige Bußgelder an. In Europa gibt es dagegen keine solche Pflicht. Trotz der Gesetzgebung und der Kampagnen, die Radfahrer zu einer größeren Achtsamkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern aufrufen, werden akute Verletzungen für alle, die diesen Sport ausüben, immer ein wichtiges Thema sein.
Chronische Verletzungen
Verschiedene Studien bezeichnen Nacken und Rücken als die Hauptquellen von Überlastungstraumata. Nach einer 6–8 tägigen Radtour von Freizeitradfahrern berichteten Wilber et al., dass 54 % der Frauen und 44,2 % der Männer sich Nackenschmerzen und 30 % Rückenschmerzen zugezogen hatten, die sogar ärztlich behandelt werden mussten.(1) Patterson et al. untersuchten das Phänomen der „Radfahrerlähmung“ (einer Taubheit bzw. eines Kribbelns in Händen und Fingern) bei Radfahrern nach einer Fahrradtour von 600 km.(2) Von den 25 untersuchten Radfahrern zeigten 23 Bewegungssymptome oder sensorische Symptome, vor allem im Nervus ulnaris Gebiet der Hände (Daumen, 4. und 5. Finger).
Wilber et al. fanden heraus, dass 86 % der Radfahrer an einem oder mehreren Überlastungstraumata litten: 48,8 % hatten Nackenprobleme, 41,7 % Knieprobleme, 36,1 % Leisten- und Gesäßprobleme, 31,1 % Handprobleme und 30,3 % Rückenprobleme. Die Wissenschaftler stellten auch fest, dass Radfahrerinnen 1,5 x häufiger Nackensymptome entwickeln als ihre männlichen Kollegen. Obwohl Nackensymptome am häufigsten auftreten, sind meiner Erfahrung nach Knieverletzungen bedenklicher, da sie ein größeres Langzeitrisiko beinhalteten
Radfahrbiorhythmen
Ein einfacher Radfahrzyklus hat eine Powerphase von 12 Uhr bis 6 Uhr und eine Erholungsphase von 6 Uhr bis 12 Uhr. Die Powerphase liefert den größten Anteil der Kraft, die für die Vorwärtsfahrt nötig ist. Diese Kraft wird über die Beinstreckmuskeln erzeugt: Quadrizeps, Gluteus maximus, ischiokrurale Muskulatur (auf die Hüfte einwirkend) und Wade (auf den Knöchel einwirkend). Die Erholungsphase trägt ebenfalls zur Gesamtkraft bei, die in einem Zyklus durch den Aufwärtszug der Klicksystempedale über die Beuger erzeugt wird: Hüftbeuger, ischiokrurale Muskulatur (auf das Knie einwirkend) und Waden (auf den Knöchel einwirkend).
Wann ist das Knie wie gebeugt?
Um 12 Uhr ist das Knie um 110° gebeugt, dann wird es während der Powerphase um 75° gestreckt, bis es zu Beginn der Erholungsphase um 35° gebeugt wird. Während der Powerphase dreht sich das Knie leicht einwärts.
Die Fußpronatoren (einwärts gedreht), die die innere Rotationskraft auf das Knie übertragen, steigern die Belastung der Knieinnenseite noch zusätzlich. Das Gegenteil passiert während der Erholungsphase vor einer weiteren Powerphase. Am Ende der Powerphase sollte der Fuß parallel zum Boden sein. Der untere und mittlere Rücken muss ein verlängertes Vorwärtsbeugen und die obere Wirbelsäule eine verlängerte Dehnung aushalten.
Fahrradsetup: Hier begehen viele Radfahrer Fehler
Ein korrektes Fahrradsetup ist entscheidend zur Leistungsmaximierung und zur Vermeidung von Verletzungen. Doch nur wenige Freizeitradfahrer sind sich dessen bewusst.
Wenn Sie sich an einem Sonntagmorgen auf die Straße wagen, sehen Sie Herden von Fahrradfahrern mit zu hohen Sätteln oder stark nach links oder rechts abweichenden Knien.
Kurbelgarnituren und Schuhplatten können helfen
Das Fahrradsetup kann durch zwei kleine Zusatzteile beträchtlich verbessert werden: Kurbelgarnituren, die leichte Längenunterschiede der Beine, wie sie häufig vorkommen, kompensieren können. Schuhplatten, die an die Schuhe geschraubt werden und die Knieausrichtung korrigieren. Sie erlauben es dem Fuß,in seiner normalen Position zu operieren. Auch spezielle Fußeinlagen werden oft verwandt.
Um ein Gleichgewicht zwischen Effizienz und Komfort zu erlangen, sollten Sie darauf achten, dass das Fahrradsetup an Variablen wie Streckenlänge oder Wettkampfziel angepasst ist. In Ausdauerrennen setzen die Fahrer normalerweise auf eine weniger aerodynamische Position, um den Komfort zu verbessern. Bei einem Kurzzeitrennen können hingegen eine gebückte aerodynamische Position und ein gebeugter Rumpf von Vorteil für die Geschwindigkeit sein.
Knieverletzungen
Beim Radfahren wirkt die stärkste Kraft bis zu 5.000 Mal in der Stunde auf das Knie ein. Daher überrascht es nicht, dass schon die geringste ungünstige Gewichtsverteilung zu ernsthaften Knieverletzungen führen kann, wie Kniescheibenschmerzen, Chondromalazie (Verletzung der Gelenkknorpel unterhalb der Kniescheibe), Entzündung der Kniescheibe, des vorderen Oberschenkels und der ischiokruralen Muskulatur und Tractus iliotibialis-Syndrom.
Nacken- und Rückenverletzungen
Nackenschmerzen sind gewöhnlich auf die lange Zeit zurückzuführen, die Radfahrer in einer belastenden Position ausharren. Ein gestreckter Nacken, einhergehend mit gesenkten Schultern, vergrößert die neurale Spannung. Diese wird noch verstärkt, wenn der Lenker zu tief eingestellt ist oder die Ellbogen durchgestreckt sind. Eine starke oder lange Dehnung der Nerven kann zu Schmerzen, Lähmungserscheinungen oder Kribbeln im Nervensystem von Armen und Nacken führen.
Um den Spannungsaufbau zu verhindern, sollten Sie lernen, während des Fahrradfahrens den Nacken regelmäßig nach vorne und zur Seite zu drehen. Außerdem ist es ratsam, gelegentlich mit den Schultern zu zucken sowie sich von Zeit zu Zeit aufrecht hinzusetzen.
Mobilität der Rippen und flexible Nackenmuskeln
Eine angemessene Mobilität der Brustwirbelsäule, sowie die Mobilität der ersten Rippen und die Flexibilität der oberen Rücken– und Nackenmuskulatur, sind außerdem von Nöten. In besonders schwierigen Fällen kann ein chirurgischer Eingriff notwendig werden, um die Nervenzwischenräume zu erweitern.
Verletzungen des unteren Rückens sind mit den Nackenschmerzen prinzipiell vergleichbar, nur dass sie durch eine langanhaltende Flexion (Vorwärtsbeugen) hervorgerufen werden. Muskelermüdung, chronische Dehnung der vertebralen Bänder und lange Kompression der Bandscheiben können die Ursachen für dauerhafte Rückenschmerzen sein. Es ist ein Muss, dass Sie im unteren Rückenbereich der Hüften beweglich sind.
Achten Sie auf die Position Ihres Beckens
Auch die Beckenposition während des Radfahrens ist von entscheidender Bedeutung. Ein nach hinten gekipptes Becken führt zu einer erhöhten Flexion des unteren Rückens. Korrigiert werden kann dies durch eine Kombination von Fahrradsetup und richtiger Fahrtechnik.
Bei der Steigerung des Trainings kommt es aufgrund der langen Zeit, die Sie in einer gekrümmten Position verbringen, häufig zu Schmerzen der unteren, mittleren und oberen Wirbelsäule. Normalerweise baut sich dabei Ihre Schmerztoleranz auf. Versichern Sie sich, dass ein Sportphysiotherapeut jede auftretende Verspannung und Muskelverkrampfung behandelt. Um eine hohe Wochenkilometerzahl aufzubauen, sollte Ihr Training graduell und strukturiert sein.
Eine kräftige Körpermitte ist Trumpf
Wie bei allen Haltungsproblemen, ob auf dem Fahrrad oder nicht, ist die Stabilität der Mittelpartie entscheidend. Regelmäßige Übungen für Bauch- und Rückenmuskulatur zum Training der Ausdauer sollten einen wichtigen Teil von Behandlung und Prävention ausmachen. Haltungsübungen der Schulterretraktoren, insbesondere das Training des unteren Trapezius, sind essenziell zur Minimierung von Nackenproblemen. Die Stabilisierungsmuskeln des Lendenbeckens müssen nicht nur eine anhaltende Beugung nach vorne aushalten. Sondern auch kontinuierlich die untere Wirbelsäule und das Becken stabilisieren, um eine stabile Plattform für die wichtigsten Kraft erzeugenden Muskeln zu schaffen. Stabilitätsübungen für die Lendenbeckenregion sind daher in Behandlung und Prävention von Schmerzen der Lendenwirbelsäule unabdingbar, vor allem bei einer Steigerung des Trainingsvolumens.
Bei der Entlastung von Knie und unterer Wirbelsäule spielt die Beweglichkeit der Hüfte eine große Rolle. Während des Fahrradfahrens bleibt die Hüfte in einer gebeugten Position. Dadurch treten chronische Verspannungen von Iliopsoas (Hüftbeuger) und Adduktoren (des inneren Oberschenkels) häufig auf. Das kann zu Hüft- und Leistenproblemen führen. Sie sollten diese Regionen regelmäßig dehnen und speziell auf sie abgestimmte Übungen durchführen. Die Beweglichkeit von Gesäß und Oberschenkeln ist wichtig für einen komfortablen Sitz, ohne dass die Lenden zu stark nach hinten gekippt werden. Radfahrer berichten relativ häufig von Schmerzen der Hüft- und Leistengegend. Diese können, meiner Erfahrung nach, wie in vielen anderen Sportarten, häufig auf Probleme des unteren Rückens und des Beckens zurückgeführt werden.
Urogenitale Probleme
Auch urogenitale Probleme, wie z.B. Dysfunktion und Unfruchtbarkeit, können bei Radfahrern verstärkt auftreten. Und zwar hauptsächlich bei stark trainierenden männlichen Radfahrern. Neuropathie der Schamgegend (Lähmungserscheinungen oder Schmerzen des genitalen und rektalen Bereichs) wird am häufigsten genannt. Sie wird verursacht durch den Druck des Schamnervs gegen das Schambein. Statistiken besagen, dass diese Symptome bei 50–91 % der Radfahrer auftreten.(3) Ein Wechsel zu einem breiteren oder stärker gepolsterten Sattel, eine Veränderung des Winkels der Sattelaufhängung sowie eine Verstärkung der Polsterung der Radfahrshorts können helfen, den Druck zu mindern.
Quellenangaben:
- Wilber CA, Holland GJ, Madison RE, Loy Sf „An epidemiological analysis of overuse injuries among recreational cyclists“ International Journal of Sports Medicine, 1995 ,Bd. 16 (3), S.201-6
- Patterson JM, Jaggars MM, Boyer MI „Ulnar and Median nerve palsy in long-distance cyclists. A prospective study“ Amercian Journal of Sports Medicine, 2003,; Bd.31 (4), S. 585-9
- Leibovich I, Mor Y „The vicious cycling: bicycling related urogenital disorders“ Eur Urol, 2005, Bd. 47 (3), S. 277-86