Verletzungen der Oberschenkelrückseite, also der ischiocruralen Muskelgruppe, gehören zu den häufigsten Muskelverletzungen bei Sportlern. Einmal passiert, kommt es oftmals zu einer Wiederverletzung. Andreas Dinkelmeyer und Janek Klingmann beschreiben die Oberschenkelrückseite aus anatomischer und funktioneller Sicht und leiten daraus trainingspraktische Konsequenzen ab.
Wer ist am häufigsten von Verletzungen der Oberschenkelrückseite betroffen?
Vor allem Leichtathleten, wie z. B. 100-m-Läufer, und Teamsportler mit häufigen Sprintduellen sind immer wieder von Verletzungen der Oberschenkelrückseite betroffen. Zwei Drittel aller Verletzungen der ischiocruralen Muskulatur entstehen während eines Sprints. Nahezu die Hälfte aller Muskelverletzungen betrifft genau diese Muskelgruppe. Ziel eines Trainings sollte es daher sein, diese Verletzungen so gut wie möglich zu reduzieren, damit der Sportler keinen Trainings- oder Wettkampfausfall hat.
Um präventiv zu arbeiten und Verletzungen der Oberschenkelrückseite zu vermeiden, ist eine anatomische und funktionelle Betrachtungsweise der ischiocruralen Muskulatur hilfreich. Daraus lassen sich passende trainingspraktische Konsequenzen ziehen.
Hamstrings: Anatomie der ischiocrurale Muskulatur
Die ischiocrurale Muskulatur,auch Hamstrings genannt, umfasst drei Muskeln:
- den M. biceps femoris (zweiköpfiger Oberschenkelmuskel)
- den M. semitendinosus (Halbsehnenmuskel)
- und den M. semimembranosus (Plattsehnenmuskel).
Der M. biceps femoris besteht aus zwei Köpfen. Der lange Kopf (Caput longum) hat seinen Ursprung am Sitzbeinhöcker, schlängelt sich einmal um den Oberschenkelknochen (Femur) und hat seinen Ansatz am Wadenbeinköpfchen. Dort setzt der kurze Kopf (Caput breve) ebenfalls an; er beginnt allerdings deutlich tiefer im unteren Drittel auf der Rückseite des Oberschenkelknochens. Betrachtet man den Verlauf des Biceps femoris, so wird deutlich, dass beide Köpfe die Funktion der Außenrotation und der Flexion im Kniegelenk haben.
Aufgrund des hochgelegenen Ursprungs des Caput longum am Sitzbeinhöcker hat der Biceps femoris noch eine weitere Funktion: Durch die Kontraktion kommt es zu einer Hüftextension. Der Semitendinosus entspringt ebenfalls am Sitzbeinhöcker und zieht zur medialen Seite des Schienbeins. Der Ansatz befindet sich seitlich der Schienbeinrauigkeit. Der Semimembranosus teilt sich mit dem Biceps femoris und dem Semitendinosus seinen Ursprung am Sitzbeinhöcker und setzt an der medialen Tibiakondyle (Schienbeingelenkknorren) an.
Beide Muskeln haben durch ihren Verlauf die Funktion der Flexion und Innenrotation im Kniegelenk und der Extension imHüftgelenk.
Zusammenfassend sind die Funktionen der ischiocruralen Muskelgruppe durch ihren Verlauf die Knieflexion, die Knieinnenrotation, die Knieaußenrotation und die Hüftextension. Zusätzlich haben sie einen Einfluss auf die Becken- und Hüftposition.
Aufgabe der Muskeln der Oberschenkelrückseite: Stabilisierung der Kreuzbänder
Eine weitere wichtige Aufgabe der Muskeln der Oberschenkelrückseite ist die synergistische Unterstützung der Kreuzbänder. Durch ihren Verlauf hemmen sie zusammen mit dem vorderen Kreuzband vor allem die anteriore Translation der Tibia, d. h. das Vorgleiten der Tibia gegenüber dem Femur (Schubladenphänomen beim Kreuzbandriss). Durch ihren Ansatz am Schienbein zieht die ischiocrurale Muskulatur die Tibia nach hinten und stabilisiert so das Kniegelenk.
Hüfte vor Knie
Die bisherige Betrachtung zeigte die Anatomie und die Funktion. Aus diesem Blickwinkel würde die Beinbeugermaschine in einem Fitnessstudio für eine der vielen Funktionen der Hamstrings Sinn machen: die Kniebeugung. Doch wann trainieren wir die Hüftstreckung, arbeiten in der Frontal- und Transversalebene am Gerät? Wann liegen wir im Alltag auf dem Bauch oder wann sitzen wir auf dem Stuhl und beugen dabei unser Kniegelenk wie bei der Beinbeugermaschine? Wann muss der Mensch seine Hüfte strecken? Und wie funktionieren die drei Muskeln in Bewegung vor allem beim Sprinten bzw. Laufen?
Bei allen Arten der Fortbewegung ist die Hauptfunktion nicht die Kniebeugung, sondern die Hüftstreckung und die Stabilisation des Knies. Die Beinbeuger sind Synergisten des M. gluteus maximus, die aktiv diesen Muskel bei der Extension der Hüfte unterstützen. Sie sind die zweitstärksten Hüftextensoren und man muss diese auch dementsprechend trainieren.
Die ischiocrurale Muskulatur beim Sprint
Da die häufigsten Verletzungen der Hamstrings beim Sprinten passieren und in den meisten Sportarten gerannt wird, stellen wir nun den funktionellen Aspekt der Oberschenkelrückseite am Beispiel des Sprintens näher dar.
Beim Sprinten erkennt man alle wichtigen Aufgaben der ischiocruralen Muskulatur. Betrachtet man einen 100-m-Sprint, gibt es zwei Phasen: Die ersten Meter nennt man die Beschleunigungsphase; bei dieser wird mit einer steileren Vorlage des Körpers gearbeitet. Durch die Hüftextension, die Knieextension und die Plantarflexion wird der Körper nach vorn abgedrückt.
Die Glutealmuskulatur schiebt quasi den Körper durch den Raum. Der Fokus liegt auf der Erhöhung der Schrittlänge. Der Sprinter beginnt sich immer weiter aufzurichten und versucht, seine maximale Laufgeschwindigkeit (zweite Phase) zu erreichen. Die hintere Oberschenkelmuskulatur zeigt in dieser Phase eine deutlich höhere Aktivität als in der Beschleunigungsphase. Der Fokus wandert nun auf die Erhöhung und die Aufrechterhaltung der Schrittfrequenz.
Beinbewegungen der ischiocruralen Muskulatur
Geht man weiter ins Detail und schaut sich die Beinbewegungen an, so kann zwischen einer Stützphase (die ischiocrurale Muskulatur arbeitet in einer geschlossenen Kette) und einer Schwungphase (die ischiocrurale Muskulatur arbeitet in einer offenen Kette) unterschieden werden.
Die Stützphase kann in drei weitere Bewegungsbereiche eingeteilt werden:
- Die Kräfte werden vom „Aufprall“ abgefangen. Diese Phase kann als Stoßdämpfungsphase bezeichnet werden
- Der Körper bewegt sich weiter durch den Raum und das aufgesetzte Bein wandert unter den Körper. Es ist die Rede von der Standphase
- Im letzten Schritt kommt die Abdruckphase, in der sich der Körper explosiv vom Boden wegdrückt.
Die Schwungphase kann vereinfacht ebenfalls in drei Bereiche aufgeteilt werden:
- die frühe Schwungphase kurz nach dem Verlassen des Bodens mit dem Fuß
- die mittlere Schwungphase
- und 3. die späte Schwungphase.
Mit Schwung in die Kontraktion
Die größten Dehnungsspannungen erfahren die Hamstrings in der geschlossenen Kette bei der späten Abdruckphase und in der offenen Kette bei der späten Schwungphase. Während der späten Schwungphase zeigt sich durch den Knie- und Hüftwinkel das größte Drehmoment der ischiocruralen Muskulatur. Außerdem besteht in dieser Phase die stärkste Dehnung und die größte exzentrische Kontraktionsgeschwindigkeit. Es wirkt die höchste Last während des ganzen Sprints vor allem auf dem Biceps femoris.
Aus diesen Gründen entstehen in dieser Phase und in der späten Abdruckphase am häufigsten die Verletzungen, vor allem dann, wenn das Gewebe nicht auf derartige Belastungen vorbereitet ist. Gerade in der Stoßdämpfungsphase und in der Standphase wird die beschriebene Aufgabe der Oberschenkelrückseite deutlicher. Sie muss exzentrisch gegen die Kniebeugung arbeiten und die untere Extremität in allen Achsen stabilisieren. Diese exzentrische Kontrolle kann auf ähnliche Mechanismen wie das Landen nach einem Sprung übertragen werden.
Logischerweise verstärken sich die Last und die exzentrische Arbeit, je schneller man läuft. Die aktuelle Studienlage zeigt außerdem eine Korrelation zwischen dem Auftreten einer Verletzung der Oberschenkelrückseite und einer hohen wiederholten Anzahl an exzentrischen Kontraktionen.
Technikfehler
Ein weiterer Grund für ein häufiges Auftreten von Verletzungen der Oberschenkelrückseite ist eine schlechte Sprinttechnik. Die Becken- und die Oberkörperposition sowie die Sprinttechnik beeinflussen die Schrittlänge und die Aktivierung des Gluteus maximus. Befindet sich der Gluteus durch die Beckenpositionierung in einer ungünstigen Lage, um Kraft zu entwickeln, so müssen die Hamstrings diese Aufgabe stärker unterstützen, als es normalerweise nötig wäre. Dadurch ist die Belastung höher und das Verletzungsrisiko größer.
Nicht nur die Sprintmechanik, sondern auch die Rumpf- und die Beckenmuskulatur spielen eine wichtige Rolle. Interessanterweise besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Core-Stabilität und der Verletzungshäufigkeit der Hamstrings. Der Rumpf verhindert eine zu große Dehnung der Oberschenkelrückseite.
Der größte Risikofaktor scheint jedoch eine vorherige Verletzung der Hamstrings zu sein, weshalb vor allem nach ihrem Auftreten ein vorsichtig angepasster Trainingsaufbau von großer Bedeutung ist.
Verletzungen der Oberschenkelrückseite: Trainingshinweise
Aus den oben genannten Aspekten können nun trainingspraktische Empfehlungen gegeben werden. Zum einen sollte die Sprinttechnik verbessert und der Rumpf gekräftigt werden. Außerdem ist darauf zu achten, dass sich stark ermüdete Sportler leichter eine Verletzung zuziehen, weshalb die Regeneration und das Monitoring wichtige Aspekte in der Prophylaxe sind.
Der wichtigste Punkt jedoch ist, das Gewebe, in diesem Fall die ischiocrurale Muskulatur, auf die bevorstehende Belastung im Sport oder Alltag vorzubereiten. Einfach ausgedrückt, entstehen Verletzungen, sobald die einwirkende Last höher ist als die Belastbarkeit des Gewebes. Die Trainingsbelastung sollte so identisch wie möglich die auftretende Last im Sprint imitieren getreu dem SAID-Prinzip (specific adaptation to imposed demands). Dies betrifft nicht nur die Kontraktionsform, sondern auch die Geschwindigkeit und die Gelenkswinkel. Daher sollten Übungen gewählt werden, die die Hüftextension in der Konzentrik und die Knieflexion in der Exzentrik verbessern. Es sollte zudem einbeinig trainiert werden und es sollten vermehrt hüftdominante Übungen ins Training eingebaut werden. Die Dynamik der Bewegungen sollte immer mehr an die Zielbewegung herankommen, wobei ein Fokus auf der Exzentrik in jeder Trainingsphase hilfreich ist. Es hat sich gezeigt, dass der Nordic Hamstring Curl das Verletzungsrisiko bis zu 50 Prozent reduziert.
Zusätzlich sollten submaximale Sprints, vor allem im Reha- Setting, eingebaut werden und nach und nach zur vollen Intensität gesteigert werden.
Übungen zur Vermeidung von Verletzungen der Oberschenkelrückseite
1. HIP BRIDGE MIT EXZENTRISCHER PHASE AUF DEM PEZZIBALL

– Hip Bridge mit dem Pezziball
– Wichtig ist die Spannung im Gesäß und Rumpf
In der Startposition werden beide Füße etwa hüftbreit auf den Pezziball aufgelegt. Die Hüfte wird über eine Kontraktion des Gesäßes gestreckt und der Bauch fest angespannt. Nun werden die Knie gebeugt und der Pezziball wird in Richtung Gesäß gezogen. Anschließend streckt man die Knie langsam, während man die Spannung im Gesäß und im Rumpf weiterhin hält.
Diese Übung ist auch mit Slidern auf einem Rasen o. Ä. ausführbar. Sollte es zu Beginn zu schwer sein, die Hüfte gestreckt zu halten, kann man auch nur die exzentrische Komponente ausführen und dann das Becken, auf dem Boden liegend, und den Pezziball wieder heranziehen. Als Steigerung kann diese Übung auch einbeinig ausgeführt werden.
2. NORDIC HAMSTRING CURL

– Bei der Nordic Hamstring Curl sind die Füße fixiert
– Langsame Bewegungen steigern den Effekt
Hier amcht man die Füße in einer Halterung fest oder fixiert diese durch einen Partner. Die Hüfte ist gestreckt und das Gesäß angespannt. Nun lehnt man sich langsam so weit wie möglich nach vorn und streckt die Knie, während die Hüfte gestreckt bleibt. Wenn man sich nicht mehr halten kann, fängt man sich mit den Händen am Boden ab und drückt sich wieder in die Startposition.
Als Steigerung kann man sich wieder über die Beinrückseite nach oben ziehen; das ist jedoch sehr anspruchsvoll. Außerdem kann man die Hüfte beugen, wodurch die Dehnung der Hamstrings noch einmal stärker ist, was die Übung sehr anspruchsvoll macht. Als Regression kann man ein Superband um die Brust legen und an einem Anker über sich fixieren.
3. SINGLE LEG DEADLIFT

– Single Leg Deadlift mit der Landmine
– Wichtig ist die Bewegung aus der Hüfte
In der Startposition sind das Standbein und das Schwungbein durchgestreckt. Nun verlagert man das Gewicht nach hinten und beugt die Hüfte, als ob man mit dem Gesäß eine Wand hinter sich wegschieben will. Das Schwungbein ist weiterhin gestreckt und das Standbein wird durch die Hüftbewegung leicht mitgebeugt. Überdies bleibt die Hüfte parallel zum Boden
Hier ist es wichtig, auf eine korrekte Beinachse zu achten. Die Hüftbeugung ist sehr gut mit einer langen exzentrischen Phase kombinierbar. Nun streckt man die Hüfte wieder, indem man sich über die Fersen erneut hochzieht. Die Bewegung sollte in der Hüfte stattfinden. Als Regression kann hier eine Landmine dienen; auch eine Erhöhung des Gewichts durch eine kleine Box vermindert die Anforderungen über eine Reduzierung des Bewegungsumfangs.
4. DROP JUMP MIT LANDUNG IM AUSFALLSCHRITT

– Drop Jumps sollte man muskulär vorbereiten
– Auf eine korrekte Beinachse achten
Hier startet man auf einer kleinen Erhöhung, macht einen Schritt nach vorn und landet anschließend in einer Ausfallschrittposition. Allerdings ist dort auf eine korrekte Beinachse zu achten. Der Drop Jump birgt eine hohe Belastung auf das Gewebe und die Gelenke durch das Abspringen von einer Erhöhung. Zu Beginn sollten deshalb Landungen trainiert und auch kleine Sprünge auf der Stelle durchgeführt werden.
Fazit
Die ischiocrurale Muskulatur fungiert hauptsächlich synergistisch als Hüftstrecker und arbeitet im Sport und Alltag meist exzentrisch. Diese Aspekte sollte man im Trainingsprozess berücksichtigen, um Verletzungen vorzubeugen. Vor allem mit exzentrischen Belastungen ist das Verletzungsrisiko reduzierbar. Auch Sprints sollten nach und nach eingeführt werden, um sich an die Belastung zu gewöhnen.
Autoren: Andreas Dinkelmeyer, Janek Klingmann
Andreas Dinkelmeyer ist Sportwissenschaftler, Personal Trainer und Dozent für den Bayrischen Eissport-Verband. Er war eineinhalb Jahre beim Bayerischen Tennis-Verband als Athletiktrainer und arbeitet weiterhin mit jungen Nachwuchstennisspielern. Außerdem war er eineinhalb Jahre im Rehabereich tätig. Die größte Freude bereitet ihm, den Leuten zu helfen, sich ständig weiterzuentwickeln. www.ad-performance-and-health.com
Janek Klingmann ist Sportwissenschaftler (M.A.), Personal Trainer, Referent für den Bayerischen Eissport-Verband, Dozent für die Online Trainer Lizenz und ehemaliger Studioleiter eines medizinisch ausgerichteten Fitnessstudios. Aus dem Fußball kommend, entwickelte er eine Affinität zu Functional Training und zur Anatomie des Menschen. Sein persönliches Ziel: Wissen zu erlangen, es kritisch zu reflektieren und es anschließend zu vermitteln.
Fotos: Andreas Dinkelmeyer. Janek Klingmann
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