Die Verletzungen bei Läufern haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Diese Tatsache fordert einen Paradigmenwechsel. Es darf zukünftig nicht mehr heißen „Laufen, um fit zu werden“, sondern „Werde fit, um länger und verletzungsfrei laufen zu können“. Wie funktionelles Training dabei hilft.
Die Medien haben das Laufen in den letzten Jahren als wahres Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten angepriesen und haben der Bevölkerung suggeriert, dass jeder Mensch innerhalb von nur ein paar Wochen zum Marathonläufer werden könne.
Mittlerweile hat man(n) ja schon einen Makel im Lebenslauf, wenn dort keine Marathonlauf-Teilnahme aufgelistet ist. Die Laufveranstaltungen in Deutschland haben einen gewaltigen Boom erlebt. Die großen Marathonläufe, wie in Berlin, Köln oder Hamburg, ziehen mittlerweile mehrere Zehntausend Teilnehmer an. In den letzten Jahren haben etwa zwei Millionen Menschen an Volksläufen in Deutschland teilgenommen und rund 133000 haben pro Jahr einen Marathon erfolgreich absolviert beziehungsweise „gefinisht“, wie die Läufer sagen. Parallel zu den steigenden Teilnehmerzahlen bei Laufveranstaltungen ist aber auch die Zahl der Sportver- letzungen im Laufsport massiv angestiegen. Wir Ärzte, Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler müssen uns daher die Frage stellen, ob sich wirklich jeder zum Lang- streckenläufer eignet oder welche Grundvoraussetzungen ein Sportler mitbringen muss, damit er erfolgreich über Jahre hinweg längere Laufeinheiten ohne Verletzung absolvieren kann.
Den Körper umfassend trainieren
Um erfolgreich und verletzungsfrei zu laufen, benötigen Sportler ein gewisses Maß an Kraft, Koordination und Beweglichkeit. Diese drei Fähigkeiten stellen das Fundament einer dauerhaften Leistungsfähigkeit dar. Erst wenn dort solide Grundlagen geschaffen sind, ist es sinnvoll, die Ausdauer und Schnelligkeit anzugehen. Bei der Übungsauswahl orientiert man sich an alltags- oder sportartspezifischen Bewegungsmustern. Anstatt jeden Muskel für sich zu betrachten, fassen wir Muskeln mit gleicher Funktionsweise, wie Beuge- und Streckermuskeln, in zwei Muskelketten zusammen: die Beuger- und die Streckerkette. Zudem unterscheidet man im funktionellen Training zwischen Übungen, bei denen der trainierte Körperteil Bodenkontakt hat (engl. closed chain), wie bei Liegestützen, oder sich frei im Raum bewegt (engl. open chain), wie beim Freihanteltraining.
Das Functional Training hat für den Laufsport eine immense Bedeutung. Es stellt die traditionellen Trainingsschwerpunkte komplett auf den Kopf. Das oberste Ziel ist das perfekte Zusammenspiel von Kraft, Koordination und Beweglichkeit, denn davon hängt es ab, ob der Körper sich – seinen anatomischen Gegebenheiten im dreidimensionalen Raum entsprechend – effizient und verletzungsfrei bewegen kann. Das isolierte Training hat in der Rehabilitation oder bei gezielten Problemen seine Berechtigung, wenn einzelne Körperteile ruhig gestellt werden müssen, aber zugleich die Muskulatur gekräftigt werden soll. Das isolierte Training hat vor allem einen hohen Stellenwert für das Erreichen einer ausreichenden Rumpfstabilität. Wir legen dabei großen Wert darauf, dass die verschiedenen Muskelpartien ihre volle Funktion entfalten können, damit wir später auch bei funktionellen Bewegungen keine Kompensationsbewegungen hervorrufen, wenn synergistisch arbeitende Muskelpartien die Schwächen des Mitspielers ausgleichen müssen.
Eine stabile Hüfte ist wichtig
Eine stabile Hüfte verbessert nicht nur die Funktion des Hüftgelenks, sondern hat ebenso einen direkten Einfluss auf die Funktion der Knie und Sprunggelenke. Viele Sportler müssen anfangs ihre Hüftabduktoren durch isoliertes Training langsam auftrainieren, dabei lässt sich gleichzeitig eine Stärkung anderer Hüftstabilisatoren er- reichen. Mark Verstegen nennt dies „Innervation durch Isolation“.
Funktionelles Training hilft, Bewegungsabläufe zu optimieren, indem möglichst viele Muskeln über mehrere Gelenke aktiviert werden. Beweglichkeits- und Stabilitätstraining sind der Schlüssel zum Erfolg. Um an der Basis jeder Bewegung anzusetzen, beginnt Beweglichkeitstraining grundsätzlich mit dem Rumpf. Die Anteile des Bewegungsapparats, die für jeden eine besondere Bedeutung haben, sind:
– Sprunggelenke
– Knie
– Hüfte
– Lendenwirbelsäule, Brustwirbelsäule
– Schultern und Arme
Dabei haben die unterschiedlichen Anteile verschiedene Grundanforderungen. Während die Sprunggelenke, die Hüfte, die Brustwirbelsäule und die Schultern in erster Linie ausreichend beweglich sein müssen, kommt es bei den Knien und der Lendenwirbelsäule zuallererst auf die Stabilität und eine Kraftübertragung mit möglichst wenig Energieverlust an. Die Muskeln als aktiver Bewegungsapparat verspannen die einzelnen Bewegungssegmente untereinander und können dabei sogar über zwei oder sogar mehr Gelenke verlaufen. Beim gerätebasierten Training orientieren wir uns genau an diesen Grundlagen. (Lesen Sie auch: 5 funktionelle Übungen für Läufer)
Kraftübungen trainieren idealerweise komplexe Bewegungsmuster anstatt nur isoliert ein Gelenk oder eine Muskelgruppe. Es geht nicht nur darum, mehr Kraft zu bekommen. Der Leistungszuwachs, den Sie sich durch das funktionelle Training erarbeiten, basiert insbesondere auf einem besseren Gleichgewicht und einer größeren Mobilität und Stabilität Ihres Bewegungsapparates. Die Planung von funktionellem Training soll gleichzeitig Spaß machen und eine Herausforderung darstellen.
Dr. Lutz Graumann
Dr. med. Lutz Graumann, geb. 1972, ist Sportmediziner und Arzt für Manuelle Medizin/ Chirotherapie mit dem Schwerpunkt Leistungsoptimierung. Als Dezernent für die Sportmedizin der Bundeswehr und medizinischer Direktor der Firma Tignum hält er ständigen Kontakt zu den besten Trainern der Welt. Sein neuartiges Trainingskonzept Get Fit to Run wurde 2008 in der Vorbereitung auf den München Marathon und das Nike Human Race eingeführt. 2009 gründete er das Performance & Health Institute mit Sitz in Valley (Holzkirchen), seit Anfang 2010 läuft das von ihm mitinitiierte Projekt »Urban Fitness – die Stadt ist DEIN Studio«.