Warum „funktional“ nicht automatisch „alltagsnah“ bedeutet

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Die Suche im Internet ergibt für „Functional Training“ vielfältige Abbildungen und Informationen. Sind derartige Trainingsregimen wirklich immer „funktionell“? Was genau macht das funktionelle Training aus?

Nicht erst der Erfolg des Functional Training Summit in München zeigt, dass „Functional Training“ in aller Munde ist. Eine der größten Fitnessketten in Deutschland baut „Functional Training“ sogar in sein Kursprogramm ein. Mit lauter Musik und DJ werden Kettlebells, Liegestütze und Rope Training als Gruppenevent gefeiert. 

Recherchiert man zum „Functional Training“ stößt man unweigerlich auf den Begriff „alltagsnah“. Auf den dazugehörigen Bildern balancieren Menschen auf Pezzibällen, hauen mit Vorschlaghämmern auf Autoreifen oder ziehen Schlitten mit Gewichten durch Hallen. Ob all diese mit der ursprünglichen Philosophie der amerikanischen Urväter um Gray Cook und Michael Boyle vereinbar ist, muss stark bezweifelt werden. Michael Boyle selbst empfindet in diesem Zusammenhang, dass dem Functional Training zurecht ein schlechter Beigeschmack anhängt, weil viele Trainer ohne Hintergrundwissen „dumme Dinge tun“. Er erklärt, dass er selber früher auch derartige Fehler gemacht hat. Für ihn war das Entwickeln des „funktionellen Trainings“ jedoch kein geplanter Prozess sondern einfach normale Trainerarbeit. 

Funktionell kein Synonym für alltagsnah! 

Auf dem Functional Training Summit stellt Boyle deshalb klar, dass „funktionell“ nicht automatisch alltagsnah bedeuten muss. Niemand würde auf die Idee kommen, dass das Überwerfen von Traktorreifen einen Bezug zum Alltag hat. Gray Cook stößt in München in das selbe Horn: „Nur weil im Training Gegenstände aus dem „Functional Training“ verwendet werden, ist das Training noch lange nicht funktionell!“ Letztendlich erlaubt erst das Ergebnis eines Trainings die wirkliche Beurteilung zur Funktionalität eines Trainingsprogrammes. 

Inflationär gebrauchter Begriff 

Der Begriff „funktionell“ scheint eine Art „Qualitätskriterium“ geworden zu sein – oder doch eher ein leeres Werbeversprechen? Im Grunde genommen wird der Begriff schon seit Jahrzehnten strapaziert. Gymnastik und Kräftigungstraining erlebten Mitte der 80er Jahre einen Paradigmenwechsel. Die Funktionsgymnastik löste die bis dahin im Vordergrund stehende Zweckgymnastik ab, mit dem Ziel die Ansätze funktionellen Trainierens in den Mittelpunkt des Sports zu stellen1. Kritisiert wurden beispielsweise zu diesem Zeitpunkt extreme Bewegungsformen, wie das Überstrecken des Fußes bei Turnübungen aus ästhetischen Gründen. „Funktionell“ wurde in diesem Zusammenhang wohl primär aus der Perspektive des „Funktionierens des menschlichen Körpers“ gesehen, wobei anatomische und physiologische Grundlagen des Körpers berücksichtigt werden sollten. Vor diesem Hintergrund wurden etablierte Übungen als unfunktionell betrachtet, da ihnen zugeschrieben wurde, gesundheitliche Schäden verursachen zu können. Doch im Grunde genommen dürfen isolierte Bewegungen nicht zur Beurteilung der Funktionalität einer Bewegung herangezogen werden, da sie viel zu kurz greifen. 

Die Zeiten ändern sich – das Wissen auch! 

Die für das Bauchmuskeltraining effektiv eingesetzten Übungen „Sit-ups“ und „Beinheben im Hang“ wurden aus Sicht der Funktionsgymnastik on den 80er Jahren als schädlich und krankmachend beschrieben. Eine Krankenkasse titelte in einer Veröffentlichung zum funktionellen Training sogar mit „Krankmacherübungen“ – begründet wurde dies mit der Annahme, dass schädigende Bandscheibenbelastungen auftreten würden und dass das Trainieren der Hüftbeugemuskulatur innerhalb dieser Übungen zu einer Verkürzung derselben führen könnte. Das wiederum soll die zur Verkürzung neigenden Hüftbeugemuskulatur weiter verstärken2. In späteren empirischen Untersuchungen konnten diese Annahmen jedoch widerlegt werden. Sit-Ups und auch das Beinheben sind effektive Übungen für die Bauchmuskulatur. Aus der Sicht des modernen „funktionellen Trainings“ sind diese komplexen Übungen sogar dem isolierten Training der Bauchmuskulatur vorzuziehen! Die Funktionalität von den selben Übungen wurde im Laufe der Zeit von ein und der selben Strömung unterschiedlich bewertet!

 

Lesen Sie weiter in Teil 2 „Wenn aus funktionell unfunktionell wird„.

 

Literatur

1) Knebel, K.-P. (1985). Funktionsgymnastik. Reinbeck: Rowolth. 

2) Gesundheitssport und Sporttherapie, 2000, 16. S. 128 -133. 

3) Klee, A. (1995) Haltung, muskuläre Balance und Training. Frankfurt am Main: Harri Deutsch.

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Über den Autor

Dennis Sandig arbeitete als Sportwissenschaftler am Institut für Sportwissenschaften der Julius-Maximilians Universität in Würzburg. Aktuell ist er bei der Deutschen Triathlon Union als Wissenschaftskoordinator und Referent für Bildung zuständig, sowie für das umfassende Aus- und Fortbildungsprogramm für Coaches im Triathlon.

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