Rückenschmerzen: Synergistische Dominanz und gegenseitige Inhibition

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In der Vergangenheit konzentrierten sich Sportmediziner bei Schmerzen im unteren Rücken vornehmlich auf isolierte verletzte Strukturen. Heute präferiert man aber häufig einen ganzheitlichen, funktionellen Ansatz.

Etwa 70 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden regelmäßig und akut unter Schmerzen im unteren Rücken. Sowohl unter Freizeit- als auch unter Leistungssportlern treten Rückenschmerzen immer häufiger auf. Auch Berufsunfälle betreffen in immer größer werdender Zahl den unteren Rücken. Verantwortlich dafür sind häufig eine unphysiologische Körperstatik und neuromuskuläre Defizite, die für übermäßige Rotations- und Schubkräfte in der Lendenwirbelsäule sorgen und zur Überlastung des Gewebes und schließlich zur Verletzung führen. 

In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff Funktion zum Schlagwort entwickelt. Doch was bedeutet eigentlich Funktion? Funktionelle Bewegungen sind Bewegungen, die in mehrere Bewegungsrichtungen gleichzeitig erfolgen, die Beschleunigungs-, Abbrems- und Stabilisationsfähigkeit erfordern. Wer seine funktionelle Kraft und neuromuskuläre Fähigkeit trainieren möchte, der muss funktionelle Bewegungsabläufe trainieren. Funktionelle Kraft macht sich in unterschiedlichsten Bewegungsausführungen bemerkbar. So ist sie zum einen die Fähigkeit des neuromuskulären Systems, konzentrisch Kraft zu entwickeln, sie muss aber gleichzeitig den Körper dabei an entsprechenden Stellen stabilisieren und zudem noch Bewegungen exzentrisch abbremsen. Neuromuskuläre Fähigkeiten werden somit benötigt, um die jeweiligen Hauptmuskelgruppen, ihre Synergisten, Stabilisatoren und Neutralisatoren so einzusetzen, dass eine flüssige, stets kontrollierte und ökonomische Bewegung zustande kommt. Das Ziel funktioneller Konditionierung ist demnach, Athleten ausreichend funktionelle Kraft, neuromuskuläre Fähigkeit und Rumpfstabilität anzutrainieren, damit sie alle multidimensionalen Bewegungen effizient ausführen können. 

Kompensationen führen zu Beschwerden

Die meisten Bewegungen finden nicht bei neutraler Lendenwirbelsäule statt und sind in den seltensten Fällen isoliert und eindimensional. Eine Bewegung ist eine Serie komplexer, ineinander greifender Ereignisse, die neben den hauptarbeitenden Muskeln auch Synergisten, Stabilisatoren und Neutralisatoren mit einbezieht, um zu beschleunigen und abzubremsen und gleichzeitig den Körperschwerpunkt und beanspruchte Körpersegmente und -strukturen zu stabilisieren. Dabei stellt der Rumpf das wichtigste Glied in der kinetischen Kette dar. Von hieraus beginnt jede Bewegung. Wer einen starken, gut ausgebildeten Rumpf hat, der hat eine bessere Kraftübertragung, eine höhere neuromuskuläre Effizienz und gleichzeitig ein verringertes Verletzungsrisiko. 

Viele Sportler haben zwar in ihren hauptarbeitenden Muskelgruppen ausreichend Kraft und Power entwickelt, um in ihrem Sport ein gewisses Niveau zu erreichen, doch fehlt es ihnen an funktioneller Stabilisationskraft und neuromuskulärer Kontrolle des Lenden- und Hüftbereichs. Ein Mangel an Stabilisationsfähigkeit und neuromuskulärer Kontrolle kann allerdings zu Überlastungen und Verletzungen führen. Die kinetische Kette: Eine kinetische Kette beinhaltet, neben den klassischen Gelenkstrukturen, myofasziales Gewebe und neuronale Elemente. Diese drei Systeme arbeiten als integrierte, funktionelle Einheit zusammen und sorgen während der Bewegung für funktionelle Effizienz. Wenn auch nur ein kleiner Teil in diesem komplexen System nicht funktioniert, dann müssen die anderen Teile das entstehende Defizit kompensieren, was wiederum schnell zu einer Überlastung und in der Folge zu Beschwerden oder Verletzungen führen kann. 

Beispiel: Wenn ein Muskel, wie der Gluteus maximus, zu schwach ist, dann müssen andere Muskeln – in diesem Fall der Erector spinae und die ischiokrurale Muskulatur – vermehrt arbeiten, um die Funktionalität der Bewegung aufrechtzuerhalten. Sie sind aber bei diesen Bewegungen eigentlich nicht als Agonisten vorgesehen, sondern als Synergisten. In dieser Aufgabe sind sie nicht dafür ausgelegt, die Bewegung funktionell auszuführen, weil sie einen ungünstigeren Ansatzpunkt am Gelenk haben. Es kommt daher zu erhöhter Belastung auf die Lendenwirbelsäule und dadurch zu erhöhter synergistischer Muskelaktivität ohne adäquate Stabilisation. Dieses Konzept wird als synergistische Dominanz bezeichnet. 

Bei Dysfunktionen das ganze System betrachten

Wenn ein Muskel extrem steif ist, beispielsweise der Psoas, dann beeinträchtigt das die Antagonisten – in diesem Fall den Gluteus maximus und den Transversus abdominus. Dieses Phänomen heißt gegenseitige Inhibition. Gegenseitige Inhibition bedeutet, dass die Antagonisten durch die Aktivierung des Agonisten reflektorisch gehemmt werden und dem zielführenden Muskel somit weniger Widerstand entgegenbringen, was zu einer ökonomischeren Bewegungsausführung führt. Neuromuskuläre Kontrolle: Alle Bewegungen steuert das zentrale Nervensystem (ZNS). Das ZNS plant programmierte Bewegungsmuster, die es wiederum an vielfältigen Stellen abändern kann, um auf konkrete Gegebenheiten wie Unterschiede in Geschwindigkeit oder Untergrund zu reagieren. Wer nun einen verletzten Sportler neu konditionieren möchte, der muss alle Rumpfmuskeln in allen drei Bewegungsebenen aktivieren, wobei er Beschleunigung und Abbremsen dynamisch trainieren muss. 

Wenn eine Dysfunktion in der kinetischen Kette vorliegt, dann muss man das ganze komplexe System betrachten. So haben wissenschaftliche Untersuchungen beispielsweise ergeben, dass es infolge einer Fußgelenksverstauchung zu einer Behinderung der Funktion von Gluteus medius und Gluteus maximus kam, was wiederum zu einer mangelnden Abbremsfähigkeit führte. Weitere Untersuchungen zeigten, dass infolge einer Verletzung des Lendenwirbelbereiches der Transversus abdominis (TA) beeinträchtigt wird und der Sportler nicht mehr in der Lage ist, diesen adäquat zu aktivieren. Der TA fungiert aber als Hauptstabilisator für die Lendenwirbelsäule. Er hat die Aufgabe, Rotations- und Translationskräfte zu kontrollieren. Wird dieser nicht ausreichend aktiviert, muss der Athlet stattdessen andere Muskelgruppen wie den Psoas, den Erector spinae und die äußere Abdominalmuskulatur aktivieren, um die Funktionalität des TA zu ersetzen und für Stabilität zu sorgen. Doch diese synergistische Dominanz kann schnell zu unzureichender Stabilisation, mangelnder neuromuskulärer Kontrolle, Gewebeüberlastung, Haltungsschäden und Verletzung führen. 

Das schwächste Glied in der Kette finden

Um die Ursache für Schmerzen im unteren Rücken zu finden, muss eine gründliche Evaluation stattfinden. Man muss Muskeldysbalancen, Dysfunktionen der Gelenke und die unzureichende neuromuskuläre Kontrolle in der gesamten kinetischen Kette untersuchen. Außerdem muss man die Rumpfstabilisationsfähigkeit und neuromuskuläre Kontrolle bestimmen, um das schwächste Glied in der Kette zu finden. 

Ein funktionelles Rumpfstabilisationsprogramm hat die Aufgabe, alle Muskeln, die für die Stabilisation des Lenden-Becken-Hüft-Komplexes verantwortlich sind, zu stärken und neuromuskuläre Effizienz zu entwickeln. Die Grundprinzipien bei der Neukonditionierung von verletzten Athleten sind: vom Einfachen zum Komplexen, vom Bekannten zum Unbekannten, von niedriger zu hoher Krafteinwirkung, von statischen zu dynamischen Bewegungen. Man sollte langfristig spezifische, funktionelle Übungen mit fundamentalen Bewegungen einsetzen, die sicher und anspruchsvoll sind, die mehrere Sinne gleichzeitig ansprechen und alle drei Bewegungsebenen trainieren. Jeder Sportler sollte ein dynamisches Beweglichkeitsprogramm bekommen, bei dem er lernt, muskuläre Dysbalancen selbst zu korrigieren. Außerdem ist manuelle Therapie wie Massage hilfreich, um das myofasziale Gewebe zu lockern und Dysfunktionen der Gelenke zu adressieren.

Mike Clark

 

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