Die meisten Ausdauerathleten können ihre besten Zeiten erzielen, indem sie in ihren Rennen einen sogenannten „negativen Split“ anwenden, d. h. in der 2. Hälfte des Wettkampfs schneller zu laufen als in der 1. Hälfte).
Für Läufer scheint dies für alle Distanzen zuzutreffen, die von 1 Meile bis zum Marathon reichen, und die optimale Zeiteinteilungsstrategie scheint ungefähr 50,5 : 49,5 bis 51 : 49 zu sein, das bedeutet ganz einfach, dass die 1. Hälfte des Rennens ungefähr 50,5–51 % der Gesamtzeit und der 2. Teil sollte 49–49,5 % einnehmen.
Warum starten die Kenianer dann so schnell? Obgleich die Renntaktiken der kenianischen Läufer von Wettkampf zu Wettkampf und von Läufer zu Läufer verschieden sind, sind die Elitekenianer dafür bekannt, das Rennen unglaublich schnell zu beginnen. Dies scheint besonders auf den Geländelauf zuzutreffen, ein Sport, in dem die Kenianer so schnell starten, dass die möglichen Sieger und die Verlierer sich schon innerhalb der ersten 800 m des Rennens herauskristallisieren – sogar in einem 12-km-Wettkampf. Wenn Sie ein nichtkenianischer Geländeläufer sind, müssen Sie wenigstens einigermaßen nah an der führenden Meute bleiben, wenn Sie sich die geringsten Hoffnungen machen unter den ersten 10 Konkurrenten durch das Ziel zu laufen. Das heißt Sie müssen sehr schnell starten und sich fernhalten von der optimalen Strategie des negativen Splits.
Ich konnte mich glücklich genug schätzen, über die Jahre hinweg Zeuge vieler großer Rennen gewesen zu sein, aber eine der lebhaftesten Wettkampferinnerungen habe ich von der ersten Geländelauf-Weltmeisterschaft, die ich überhaupt besuchte, 1991 in Antwerpen, Belgien. Im 1. Rennen des Tages, das 4.435-km-Rennen der Juniorinnen, fegten 2 junge Kenianische Frauen – Lydia Cheromei und Jane Ekimat – so schnell aus dem Startbereich heraus und ließen ihre Konkurrentinnen so weit hinter sich, dass ich dachte, sie machen ein paar Teststarts vor dem eigentlichen Rennen, statt wirklich den Wettkampf zu beginnen.
Nach 400 m hatten sie einen Abstand von 50 m zwischen sich und ihren nächsten Konkurrentinnen geschaffen. Ich schätzte vorsichtig, dass sie ihre ersten 400 m in 63–65 Sekunden liefen. Nach 800 m schien das unglaubliche Kenyaduo über 100 m Vorsprung zu haben, und diesen hielten sie für einen großen Teil des restlichen Rennens. Ein später Angriff durch das damalige amerikanische Phänomen Melody Fairchild schloß drastisch zu Ekimat auf, aber Cheromei schaffte es, trotz ihres unglaublichen positiven Splits die Führung des Rennens bis zum allerletzten Teil des Wettkampfes aufzubauen und beendete 29 Sekunden vor Fairchild und mit 21 Sekunden Vorsprung vor Ekimat. Beide Kenianerinnnen waren wissenschaftlicher Weisheit zum Trotz großartige „positive Split“-Rennen gelaufen. Fairchild war besonnener und ging wissenschaftlich mit der Mode, und dies hinderte sie daran zu gewinnen oder sich zu platzieren.
Was ist das Geheimrezept der Kenianer?
Die schnellen Starts der Kenianer fordern unsere goldene Grundregel des negativen Splits heraus, also müssen wir uns fragen, was hier vor sich geht. Ist der negative Split doch nicht so großartig wie wir glauben? Tun die Kenianer etwas, das ihnen erlaubt, die unabänderlichen Gesetze der Bewegungsphysiologie zu umgehen?
Um diese Fragen zu beantworten, sollten zunächst die Mechanismen untersucht werden, die dem negativen Split zugrunde liegen. Im Allgemeinen mögen Bewegungswissenschaftler argumentieren, dass der positive Split – d. h. schnell zu starten – häufig zu suboptimalen Endzeiten führt, da die Ermüdung, die vom schnellen Start herrührt, in der 2. Hälfte des Rennens ihren ernstlichen Tribut fordert und einen Ausdauerathleten erheblich bremsen kann. Im Gegensatz dazu hilft der negative Split, Kräfte für die 2. Hälfte des Rennens aufzusparen. Obgleich die Ermüdung ein fast unüberwindliches Niveau erreichen kann während sich die Ziellinie nähert, kann ein Wettkämpfer mit dieser Ermüdung besser fertig werden, da er weiß, dass das Ziel greifbar nahe ist.
Grundsätzlich ist die Gesamtzeit in der man mit der Müdigkeit zu kämpfen hat viel geringer, wenn ein Ausdauerathlet ein Rennen negativ statt positiv splittet – normalerweise das letzte Achtel bis Viertel des Rennens (bei negativem Split) anstelle von den letzten 5 Achtel bis 3 Viertel des Wettkampfs (beim positiven Split). Folglich gibt es einen weniger drastischen Bremseffekt, wenn man negativ splittet. Mit anderen Worten resultiert der vorsichtige Start, mit seiner evtl. „verlorenen“ Zeit durch die geringere Geschwindigkeit, in der Möglichkeit die gesparten Kräfte am Ende des Rennens einzusetzen. Demgegenüber wird der schnelle Start und der zugehörige Zeitgewinn durch die betäubende Ermüdung abgeschwächt, die den größten Teil des Rennens beeinflusst.
Der Einfluss der Wasserstoffionen
Physiologisch gesehen verweisen Bewegungsforscher auf Wasserstoffionen als Schlüssel für die Extraermüdung, die mit dem zu schnellen Start verbunden ist, und dies macht auch Sinn. Während des Anfangsstadiums eines Rennens haben der Puls und die Durchblutung der Beinmuskeln noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, und folglich hat die sauerstoffabhängige Energie zur Generierung innerhalb der Beinmuskeln noch nicht ihre Spitze erlangt. Infolgedessen sind sauerstoffunabhängige Energiebildungsprozesse ziemlich wichtig, und eine ordentliche Menge an Milchsäure wird produziert.
Milchsäure kann sich in Laktat und Wasserstoffionen trennen; das Laktat selbst ist eine wundervolle Verbindung, eine ungeheure Energiequelle für die Muskelzellen. Die Wasserstoffionen sind auch ein natürlicher Bestandteil der Muskelzellen, die an der intensiven Arbeit des Laufens teilnehmen, aber das potenzielle Problem, das mit dem Wasserstoff verbunden ist wenn genug davon innerhalb der Muskeln aufgebaut werden, ist, dass der intramuskulöse pH-Wert fällt (das Innere der Muskelzellen wird säurehaltiger), und es wird schwieriger für die Zellen, kräftig zu kontraktieren (d. h. Ermüdung erfolgt). Die Ansäuerung der Muskeln senkt die muskulöse Energieerzeugung und verursacht so die Ermüdung.
Berücksichtigen Sie, dass es einige unterschiedliche Wege gibt, sich diesem ermüdungsverursachenden Ansäuerungsprozess zu widersetzen. Eine Methode ist selbstverständlich das Rennen einigermaßen langsam zu beginnen. Wenn Rennstarts mäßiger sind, wird die sauerstoffunabhängige Energieerzeugung weniger wichtig, die Wasserstoffionproduktion wird gesenkt, und der Umfang der Ansäuerung wird vermindert. Selbstverständlich ist das einzige Problem bei dieser Strategie, dass ein vernünftiger Rennläufer die Kenianer (oder Hauptkonkurrenten) weit in die Ferne entschwinden sehen kann, während er selbst die Wasserstoffionen unter Kontrolle hält. Das Rennen gewinnt aber immer der schnellste Läufer, nicht der beste Wasserstoffionenminimierer.
Glücklicherweise gibt es beim Wettkampf andere Wege, als ein warmduschender Rennteilnehmer zu sein, um mit dem beunruhigenden Wasserstoff fertig zu werden. Das sogenannte „Co-Transport-System“ hält den pH-Wert neutral indem es das Laktat und die Wasserstoffionen aus den Muskelzellen herausdrückt und so verhindert, dass Wasserstoffionen sich zu stark anhäufen. Ein Ausdauertraining verbessert die Kapazität dieses Co-Transport-Systems, aber die Forschung muss uns erst noch mitteilen, ob intensives oder umfangreiches Training die beste Art ist die Co-Transport-Funktion zu optimieren (die entsprechenden Untersuchungen beim Menschen sind einfach noch nicht abgeschlossen). Interessanterweise hat Hypoxie (Höheneinwirkung) geringe Auswirkungen auf das System. Dies ist ein wenig überraschend, da man erwarten könnte, dass das Leben in großer Höhe oder spezifisches Höhentraining die sauerstoffunabhängige Energiebildung und die Wasserstoffionkonzentrationen erhöhen würde und die Muskelzellen folglich dazu zu zwingen müsste, sich anzupassen, indem sie ihre Co-Transport-Fähigkeit für Laktat und Wasserstoff verbessern.
Muskelpumpen
Das Laktat-/Wasserstoff-Transportsystem ist jedoch nicht die einzige Art, mit der die Muskelzellen Säureanhäufungen während des Sports verhindern können. Es gibt auch etwas, das „Na+/H+-Austauscher“ genannt wird, was im Grunde genommen Wasserstoffionen aus den Muskelzellen herauspumpt und als Ersatz Natriumionen hereinholt(Laktat nimmt an diesem Prozess nicht teil). Wie auch das Laktat-/Wasserstoff-Transportsystem, verbraucht dieser Austausch Energie, und der Na+/H+-Austauscher scheint beim Sport von entscheidender Bedeutung zu sein.
In einer neuen Studie führten Versuchspersonen mäßig intensive Kniedehnungsübungen durch, was einen Nettoabgang von Laktat und Wasserstoffionen aus ihren Beinmuskeln verursachte. Nach ungefähr 10 Minuten Beinarbeit fügten sie der Beinbetätigung intensive Armübungen hinzu, eine Kombination die dazu führte, dass Wasserstoffionen weiterhin aus den Beinmuskeln herausflossen, obwohl die Laktatdynamik in den Beinen sich von einer Nettoabnahme in eine Nettozunahme des Laktats veränderte. Faktisch nahmen die Beinmuskeln das Laktat, das von den Armen abgegeben wurde, in einer höheren Rate auf, als dass sie Laktat freigaben. Die Nettowasserstoffionenfreigabe der Beinmuskelzellen (und die Säuresteuerung) wurde nicht über den Laktat-Wasserstoff-Co-Transport sondern durch den Na+/H+-Austauscher geregelt. Wie sich herausstellt weisen Forschungen daraufhin, dass dieser entscheidende Na+/H+-Austauscher von moderatem bis niedrigintensivem Ausdauertraining unberührt bleibt, aber durch hochintensives Training drastisch verbessert wird. Das ist zweifellos, was man erwarten würde, da intensives Laufen (oder Radfahren, Schwimmen, Rudern oder Langlauf) hohe Wasserstoffionkonzentrationen erzeugt und Muskelzellen dazu zwingt, in irgendeiner Weise mit dem Wasserstoff fertig zu werden, wenn Ermüdung verhindert werden soll. Demgegenüber verursacht mäßig bis niedrigintensive Bewegung kleine Veränderungen des Wasserstoffionniveaus und des pH-Werts und bringt anscheinend Muskelzellen nicht dazu, ihren Na+/H+-Austauscher zu verbessern.
Interessanterweise zeigt diese Forschung auch, dass die „hypoxische Behandlung“, d. h. die Aussetzung verringerter Sauerstoffkonzentrationen, wie es in mäßigen bis großen Höhen der Fall wäre, tendenziell auch die Na+/H+-Verarbeitungskapazität erhöht. Dieses ist auch logisch, da verringerter Sauerstoff eine Erhöhung der sauerstoff-unabhängigen Energiebildung verursacht und folglich die Wasserstoffionkonzentrationen vergrößern und der pH-Wert sinken würden.
Kenianer, kommt zurück!
Steigen wir wieder bei den Kenianern ein, die intensiver trainieren als sonst jemand auf der Welt und die auch – im Großen und Ganzen – in großer Höhe geboren werden und aufwachsen. Ihr sehr schnelles Training optimiert zweifellos ihre Na+/H+-Austauscher und zwingt ihre Muskelzellen dazu zu lernen, Wasserstoffionen in hoher Rate herauszupumpen und Natrium heranzuholen. In großer Höhe geboren zu werden und aufzuwachsen hat den gleichen Effekt, und folglich haben Kenianer eine ganz andere Ausgangsposition als die Athleten, die weniger intensiv trainieren und/oder nicht in großer Höhe leben.
Mit ihren ungeheuer starken Na+/H+-Systemen können die Kenianer auf die Wasserstoffionenniveaus innerhalb ihrer Muskeln eingehen, indem sie von der Startlinie weg losbrausen – und doch wenig darunter leiden, weil ihre Na+/H+-Pumpen das Chaos ziemlich schnell aufräumen. Ein meilenstarker (mäßig intensiver) Läufer und/oder Meeresspiegelläufer, der die gleiche Strategie versucht, macht sich im 1. Drittel des Rennens ziemlich gut – versinkt dann aber in einem Morast der Ermüdung, der aus dem zurückbleibenden Wasserstoff resultiert. Der positive Split ist wirklich etwas für Kenianer, aber es kann auch für jeden Ausdauerathleten funktionieren, der ein enormes Na+/H+-Austauschpotential entwickelt, entweder durch intensives Training oder Höhenwohnsitz (oder vorzugsweise beides).
Um diesen Artikel zu vervollständigen, sollten wir kurz erwähnen, dass es noch einen Mechanismus gibt, der bei der Steuerung des intramuskulösen Säurewertes hilft. Dies ist die Pufferfähigkeit der Muskeln, d. h. die Fähigkeit der Muskelzellen Wasserstoffionen „aufzusaugen“, indem sie diese zwingen, sich mit Chemikalien innerhalb der Muskeln zu verbinden. Diese Chemikalien gliedern sich dann fest an den Wasserstoff an und verhindern, dass sie zurück in das intramuskulöse „Bad“ springen und den pH-Wert senken.
Bikarbonat ist ein wundervoller natürlicher Puffer, sowohl innerhalb der Muskeln als auch im Blut (seine ausgezeichnete Tätigkeit erklärt, warum Bewegungswissenschaftler lange an Natriumbikarbonat als mögliches Leistungserhöhendes Mittel interessiert waren). Es gibt auch Proteine innerhalb der Muskelzellen, die helfen, einen Abfall des pH-Werts zu verhindern; eins der bemerkenswertesten dieser Proteine ist das Karnosin. Die Forschung zeigt an, dass die Pufferfähigkeit der Muskeln um bis zu 38 % in nur 8 Wochen erhöht werden kann und dass ein sehr intensives Training positivere Veränderungen in der Pufferfähigkeit verursacht als wenig intensive bis moderate Betätigung (Wer hätte das gedacht!).
Zusammenfassung
Was ist also das Endergebnis? Um ehrlich zu sein wurden die Forschungen, die den negativen Split bevorzugten, mit „normalen“ Ausdauerathleten durchgeführt und nicht mit Kenianern. Diese normalen Personen haben vermutlich auf gewöhnliche Art trainiert, mit der Betonung auf Menge statt Qualität des Trainings. Außerdem haben die meisten von ihnen nicht in großer Höhe gelebt. Infolgedessen hatten sie mittelmäßige Na+/H+-Austauschsysteme und es überrascht nicht, dass sie gut daran taten, negativ zu splitten.
Demgegenüber sind Kenianer vermutlich die besten Na+/H+-Austauscher der Welt, und deshalb sind sie auch die weltbesten Positivsplitter. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass das positive Splitten die beste Strategie für Kenianer ist (d. h., ihnen dazu verhilft, ihre bestmöglichen Zeiten zu laufen), wir können nur schlicht feststellen, dass die harttrainierenden, in der Höhe lebenden Kenianer den positiven Split effektiver durchführen können, als jeder andere auf der Welt – und diese Strategie häufig dazu verwenden, um ihre Konkurrenten zu schlagen.
Wir können jedoch nicht so weit gehen, zu empfehlen, dass Sie Ihre grundlegende Rennstrategie vom negativen zum positiven Split ändern, aber es ist zweifellos sinnvoll, die Intensität Ihres Trainings nach und nach zu erweitern. Indem Sie dies tun, entwickeln Sie mit der Zeit ein Na+/H+-Austauschsystem, das dem der Kenianer ähnelt – und Sie können viel besser mit sehr schnellen Rennstarts umgehen, falls Sie versehentlich zu schnell starten oder einen Konkurrenten früh im Rennen „loswerden“ oder einschüchtern möchten. Ein überlegener Na+/H+-Austausch ermöglicht es Ihnen auch, Schwankungen innerhalb des Rennens effektiv auszugleichen, ob sie nun in einem frühen, mittleren oder späten Stadium des Rennens auftreten. Außerdem verbessert er Ihre Fähigkeit, hügelige Rennstrecken mit Selbstbewusstsein anzugehen (einen Hügel während eines Rennens hinaufzurennen kann das Innere Ihrer Beinmuskeln in „Wasserstoffionen-Bäder“ verwandeln, wenn aber Ihr Na+/H+-Austausch gut funktioniert, können Sie sich des Wasserstoffs schnell entledigen).
Ein verbessertes Na+/H+-System hilft Ihnen auch, einem „Schwächerwerden“ beim Intervalltraining entgegen zu wirken (d. h. Intervallsessions, in denen Ihre letzten Intervalle von schlechterer Qualität sind als Ihre anfänglichen). Diese Widerstandsfähigkeit gegen das Schwächerwerden verbessert im Laufe der Zeit zweifellos Ihre Fitness. Das Endergebnis ist, dass, wenn Sie leistungsfähiger mit Ihrem Wasserstoffhaushalt umgehen können, Sie eher in der Lage sind Ermüdungen standzuhalten – und somit Ihre Rennen schneller beginnen und beenden können.
Owen Anderson