Das Nervensystem

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Wenn ein Muskel aufgrund von mehr Training stärker wird, dann macht sich Kraftzuwachs meistens an der Muskelgröβe oder -qualität / -ausprägung bemerkbar. In Wahrheit jedoch können Kraftzuwächse genauso auch ohne jegliche Muskelveränderungen eintreten. Viele Kraftzuwächse lassen sich eigentlich auf die Art und Weise wie der Muskel vom Nervensystem gesteuert wird zurückführen.

Insbesondere das Nervensystem kann während der sportlichen Betätigung Muskelfasern und Ansammlungen von Muskelzellen (motorische Einheiten) viel besser im Muskel rekrutieren und somit deutlich höhere Kraftwerte erzeugen. Das Nervensystem schafft es wohl auch eher die Synergisten, d. h. Muskeln, die den primären Muskel bei deren Funktion unterstützen, zu stimulieren. Genauso von Bedeutung ist, dass das Nervensystem auch in der Lage ist „Antagonisten“ zu hemmen. Antagonisten sind Muskeln, die Kräfte entgegen der erwünschten Bewegungsrichtung erzeugen. Wenn diese „eingeschränkte Abfolge“ erreicht ist, können Protagonist und Synergist deutlich höher Kräfte erzeugen.

 

Dennoch sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass diese drei Hauptrollen – Aktivierung, Zusammenwirken und Hemmung – nur einen geringen Teil von dem widerspiegeln, was das Nervensystem wirklich zur Verbesserung der Kraft leisten kann. Objektiv betrachtet, bedeutet Kraft nicht nur wie gut das Nervensystem den Protagonisten, den Synergisten und den Antagonisten stimulieren kann, sondern auch wie lange das Nervensystem diese Stimulation und Hemmung aushalten kann. Kurze Stimulationen, die nicht länger als einige Millisekunden andauern, neigen dazu bescheidene Bewegungen auszulösen. Jedoch sorgt eine gleichmäßigere Aktivierung / Hemmung der Hauptmuskeln dafür, dass die Kräfte für einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden können. Somit sind die Muskeln eher in der Lage höhere Leistungen zu erbringen.

 

Und dazu auch noch energiesparend

Vergessen Sie nicht, dass das Nervensystem auch noch äußerst reaktiv sein kann und somit motorische Einheiten viel schneller aktiviert werden können. Das allein führt zwar zu keinen höheren Kraftzuwächsen, dennoch entwickeln sich Kräfte viel schneller, d. h. Kraft wird in Energie umgewandelt. Mit anderen Worten bedeutet dass, wenn Sie ein starker Tour de France Fahrer sind und Ihre Nerven gelernt haben Ihre Beinmuskulatur viel schneller zu aktivieren, dann hätten Sie nicht nur die Kraft die zahlreichen Berge der Tour zu erklimmen, sondern auch die Energie diese Erhebungen äuβerst schnell zurückzulegen. Wenn Sie ein Wettkampfläufer sind (oder zumindest in Ihrer Freizeit laufen), dann wären Sie in der Lage bei einer höheren Geschwindigkeit zu laufen.

 

Schließlich kann das Nervensystem auch lernen die motorischen Einheiten so zu aktivieren, dass nicht nur das erwünschte Kraft- und Energieniveau für eine bestimmte Sportart erzielt wird, sondern die Kraft und Energie auch so energiesparend wie möglich produziert wird. Durch das „Anwählen“ der richtigen motorischen Einheiten für eine bestimmte Bewegung und durch das „Anrufen“ dieser Einheiten zur rechten Zeit, vergröβert das Nervensystem die Koordination (Fähigkeiten und Bewegungseffizienz). Folglich wird Energie eingespart und das Niveau der Anstrengung bleibt unter dem maximalen Prozentwert. Es spielt keine Rolle, ob das „max“ sich auf die maximale aerobe Kapazität (VO2max), die maximale Laufgeschwindigkeit, maximale Radfahrgeschwindigkeit, die maximale Rudergeschwindigkeit, die höchste Schwimmgeschwindigkeit usw. bezieht. Wenn das Nervensystem in der Lage ist jegliche Anstrengungen bei einem niedrigeren Prozentwert als dem maximalen auszuführen, dann kann diese Anstrengung besser verkraftet und während dem Training und Wettkampf länger aufrecht gehalten werden. All diese positiven Veränderungen innerhalb des Nervensystems (erhöhte Stimulation, Synergie, Hemmung, Kontinuität, Reaktivität und Effizienz) können als „neuronale Adaptation“ an das Training verstanden werden. Wie Sie sehen können, ist die richtige Nervensystemaktivität für den Erfolg eines Athleten sehr ausschlaggebend. Die große Frage lautet: wie sollten Sie Ihr Trainingsprogramm gestalten um die Funktion des Nervensystems zu optimieren?

 

Ein Hinweis aus der Wissenschaft

Glücklicherweise liefert die wissenschaftliche Forschung viele wichtige Hinweise. Beispielsweise trainierten Forscher in einer Hauptstudie, die vor mehr als zwei Jahrzehnten durchgeführt wurde, die Ellbogenbeugermuskeln ihrer Versuchsteilnehmer (grundsätzlich den Bizeps brachiales, brachii und brachioradialis). Ein wichtiger Aspekt dieser Forschung war, dass jeder Athlet nur einen Arm trainierte, der andere Arm diente zur „Kontrolle“. Am Ende der Studie verbesserte sich die Kraft des Ellbogenbeugers im trainierten Arm des Athleten um ca. 35 %.(1)

 

Als Teil dieser Forschung platzierten die Bewegungswissenschaftler zu Beginn und am Ende der Untersuchung Elektroden an den Armen der Athleten direkt über den Ellbogenflexoren. Während der Ellbogenbeugung entdeckten und zeichneten die Elektroden Aktivitäten in den Ellbogenbeugern auf. Jeder Aufzeichnung wurde in einem „integrierten Elektromyogramm“, oder IEMG, wiedergegeben. Durch das Erstellen eines IEMG vor und nach der Trainingsperiode, konnten die Wissenschaftler Veränderungen darüber aufdecken, inwieweit das Nervensystem der Athleten die Ellbogenbeuger in Reaktion auf das Training regulierten. Wie Sie vielleicht erwartet hätten, neigt das IEMG bei einem bestimmten Muskel dazu in Reaktion auf ein angemessenes Krafttraining anzusteigen. Die Steigerungen der IEMG stehen in Korrelation zu den Verbesserungen der willkürlichen Kraft. Ein ausgedehnteres IEMG kann bedeuten, dass das Nervensystem mehr Muskelzellen rekrutiert um spezifische Aktivitäten auszuführen.

 

Interessanterweise stiegen die Querschnittsflächen der trainierten Arme in dieser Vergleichsstudie um beinahe 10 Prozent im Laufe der Untersuchung an. Dies deutete darauf hin, dass einige dieser beobachteten Kraftzuwächse aus dem erhöhten Muskelvolumen hervorgingen. Um es einfacher auszudrücken, einzelne Muskelzellen im Ellbogenbeuger vergrößerten sich und mit zunehmender Größe, kam es zu höheren Kraftwerten.

 

Dennoch wurde ein beachtlicher Teil der Kraft durch die neuronale Adaptation verursacht. Das Aktivitätsniveau (IEMG) stieg um mehr als 10 % im Laufe der Studie an. Dies veranschaulichte, dass sich das Nervensystem bei der Rekrutierung der Muskelfasern, die für die Ellbogenbeugung erforderlich sind, verbesserte.

 

Stärkere, aber dafür wenigere Fasern

An dieser Stelle wurde es wirklich interessant: in dem trainierten Arm, sank das Aktivitätsniveau (IEMG), das mit einer besonderen Kraftmenge verbunden ist, und die Kraftmenge, die mit einem besonderen Aktivitätsniveau (IEMG) assoziiert wird, stieg beachtlich an. Mit anderen Worten, war nach dem Training weniger Aktivität des Nervensystems erforderlich um eine spezifische Kraft zu erzeugen (da die einzelnen Muskelfasern stärker wurden und weniger rekrutiert werden mussten um einen bestimmten Kraftanteil zu erzeugen). Jedoch wurde eine höhere Kraft automatisch erzeugt wenn das Aktivitätsniveau gegeben war (da das Nervensystem stärkere individuelle Muskelzellen rekrutierte).

 

Wie Sie vielleicht erwartet hätten, ist es möglich Kraftveränderungen hinsichtlich des Aktivitätsniveau und der Muskelgröße voneinander unterscheidet indem man nur das IEMG während der relevanten Muskelaktivität vor oder nach dem Training aufzeichnet. Um dies zu verstehen, müssten Sie die lineare Beziehung zwischen der Kraft und dem IEMG kennen, d. h. bei ansteigender Kraft, breitet sich auch das IEMG auf eine gerade und lineare Art aus. Wenn jedoch die Muskelgröße zunimmt, steigt die Kurve weniger stark an, d. h. der Anstieg des IEMG fällt bei jeder Einheit an Kraftzuwachs. Aufgrund der Masse an Muskelfasern muss das Nervensystem weniger Fasern aufrufen, um ein gegebenes Kraftniveau zu erzeugen. Anders ausgedrückt, unterstützt der (größere) Muskel das Nervensystem bei der Erzeugung von Kraft.

Sie würden nach einem angemessenen Training selbstverständlich davon ausgehen, dass ein Muskel oder eine Muskelgruppe eine neue maximale Kraft erzeugen kann und dass diese Kraft mit einer höheren IEMG in Verbindung gesetzt werden kann ,behalten Sie im Hinterkopf, dass auch wenn weniger neuronale Aktivität für eine submaximale Kraft erforderlich ist, geht aus der Steigerungen der Kraftspitze gewöhnlich nicht nur ein vergrößerter Muskel hervor, sondern das Nervensystem ist auch besser in der Lage die Muskelfasern zu stimulieren. Manchmal wird die neue Kraftspitze auch ohne einen Muskelgrößenzuwachs erzeugt und geht ausschließlich aus dem Ergebnis einer größeren neuronalen Aktivität ab (neuronale Adaptation).

Wenn das passiert, steigt die IEMG Kurve zwar an, der Aufschwung der Kraft verändert sich jedoch NICHT (insgesamt haben die Muskelzellen ihre Qualität und Quantität / Größe nicht verändert. Somit führt eine gegebene IEMG nicht zu einer verbesserten Kraftentwicklung und alle Kraftzuwächse hängen von einem gesteigerten Aktivitätsniveau oder IEMG ab.

Was passiert mit dem anderen Arm?

Interessanterweise ist dies genau das was man am untrainierten Arm bei der Untersuchung der Ellbogenbeugung festgestellt hat: Obwohl überhaupt nicht trainiert wurde, war der Arm am Ende der Studie mehr als 20 % stärker als vorher! Der untrainierte Ellbogenbeuger hat nicht einmal ein Gramm an neuem Muskelgewebe dazu gewonnen, aber sie waren bedeutend stärker, weil das Nervensystem deren Aktivität besser stimulieren und kontrollieren konnte. Im Grunde hat das Nervensystem die Muster der Muskelkontrolle vom trainierten Arm übernommen und dieses auf den schwachen, untrainierten Arm zur Erhöhung dessen Kraft übertragen. Nun, das genau ist eine neuronale Adaptation!

Wie bereits zuvor erwähnt, können die Auswirkungen der Aktivitätswerte und der intrinsischen Muskelveränderungen auseinandergezerrt werden um zu sehen, welche größer ist. Ohne dabei auf all zu technische Berechnungen einzugehen, können wir ganz einfach sagen, dass bei unserer graphischen Darstellung der Beziehung zwischen Aktivitätsniveau (IEMG) und Muskelkraft, der Kraftanstieg mehr auf die Muskelfaktoren allein zurueckgeführt werden kann, je mehr sich die Linie, die diese beiden Variablen verbindet nach rechts verschiebt (d. h. Kurvenabfall). Auf der anderen Seite, hängt ein Grossteil des Kraftzuwachses von neuronalen Faktoren ab, wenn die Linie dazu neigt über vorherige Grenzen anzusteigen ohne große Veränderungen des Kurvenverlaufs.

Was schließen wir daraus? Das Nervensystem spielt eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Kraft und es kann auch Muster der Muskelkoordination und Aktivierung erlernen, die dazu verhelfen die Kraft in einem völlig untrainierten Muskel zu erhöhen.

Eine weitere wichtige Studie

Diese frühe wegweisende Studie veranschaulichte nicht nur die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Nervensystems, sondern auch dessen enorme Bedeutung für die Kraftentwicklung. Eine wichtige logische Untersuchung, die in einem anderen Labor durchgeführt wurde, bekräftigte die Bedeutung des Nervensystems bei der Steigerung der Kraftwerte und zeigte Athleten wie Trainingsprogramme aufgebaut sein müssten, damit die funktionale Kraft optimal entwickelt wird (leider wurde diese und weitere Studien von Athletenseite meistens völlig ignoriert). In diesem zweiten Forschungsteil führten Athleten 8 Wochen lang ein Kniebeugentraining mit der Hantel aus und erzielten einen Zuwachs der Kniebeugenkraft um mehr als 70 Prozent.(2)

Die skandinavischen Wissenschaftler, die an dieser Studie beteiligt waren, haben während der Bewegung die Veränderungen der Kraft in der Hauptbeinmuskulatur gemessen und erkannt, dass die Beinpresskraft sich während des 8-woechigen Programms ebenso verbesserte – aber um ein beachtlich geringeres Ausmass. Am bemerkenswertesten war jedoch die Tatsache, dass sich die Kniestreckungskraft, die während der sitzende Tätigkeit durch die Streckung der Beine gegen den Widerstand gemessen wurde, in den acht Wochen nicht verbessert hat. Und das obwohl der Hauptmuskel, der an der Kniestreckung beteiligt ist – der Quadrizeps – durch die Kniebeugeuebungen mit der Hantel beachtlich an Kraft zugenommen hat.

Der Schlüssel zu diesen „komischen“ Ergebnissen war, dass sich das IEMG (neuronale Aktivierung) während der Kniestreckung innerhalb der 8 Wochen überhaupt nicht verbesserte. Folglich hat sich die Fähigkeit des Nervensystems den Quadrizeps während der Kniestreckung zu aktivieren nicht verbessert, obwohl die Quadrizepsmuskulatur der Athleten stärker wurde (in der Tat gab es einige Beweise darüber, dass das Nervensystem nicht mehr so gut in der Lage war die Quadrizepsmuskulatur während der Kniestreckung zu aktivieren: vielleicht weil es zuviel Energie beim Erlernen der Hantelhaltung aufbringen musste) und somit ergab sich keine Kraftsteigerung bei der Kniestreckung.

Während der Kniestreckung kam also der kräftige Quadrizeps nicht wirklich zum Einsatz: die Quadrizepse der Athleten waren zwar größer, jedoch waren sie nur in der Lage höhere Kraftwerte bei Bewegungen zu erzielen, die während der Trainings ausgeführt wurden (Hantelkniebeugen) oder bei Bewegungen (Beinpresse), die den ausgeführten Übungen sehr nahe kamen. Die Kraft wurde bei Übungen, die sich voneinander unterschieden nicht übertragen (d. h. von der Kniebeuge zur Beinstreckung).

Was Sie daraus lernen können

Sie können Ihren Muskel noch so aufpeppen und dennoch werden Sie bei Ihrer Sportart nicht unbedingt als der / die Stärkere hervorgehen. Um es richtig zu machen, sollten Sie die Bedeutung der neuronale Adaptation nicht außer Acht lassen.

Hier sind die wichtigsten Regeln/Hinweise:

  • Der Kraftzuwachs, den Sie bei einer Aktivität erreicht haben, wird nicht automatisch auf die anderen Aktivitäten übertragen. Die Kraftübertragung wird geringer (und kann sogar Null betragen) je mehr sich die Aktivitäten voneinander unterscheiden.
  • Sie sollten bei Ihrem Training auf die Kräftigung der sportartspezifischen Bewegungen achten und sich nicht auf einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen versteifen. Wenn Sie nicht in der Lage sind sich auf Bewegungen zu konzentrieren, dann vernachlässigen Sie das Nervensystem und somit kommt es zu keinen optimierten Kraftzuwächsen.
  • Wenn Ihre Sportart das Laufen involviert und Sie schneller laufen möchten, dann sollten Sie versuchen Übungen im Sitzen auszulassen, die Muskelgruppen isolieren. Vermeiden Sie auch „Zweibeinige Übungen“. Konzentrieren Sie sich auf Übungen, bei denen Kraft auf koordinative Weise von immer nur einem Bein aufgebracht werden muss, so wie es eben beim Laufen der Fall ist. Einbeinige Kniebeugen sind empfehlenswerter als zweibeinige Kniebeugen. Einbeinsprünge sind besser als Zweibeinsprünge. Genauso ist das Aufsteigen von hohen Treppenstufen der Kniebeuge mit der Hantel vorzuziehen und so weiter.
  • Owen Anderson

    Quellenangaben:

  • ”Neural Factors vs. Hypertrophy in Time Course of Muscle Strength Gain”, American Journal of Physical Medicine & Rehabilitation,, Bd. 58, S. 115-130, 1979
  • “Effect of Strength Training on EMG of Human Skeletal Muscle”, Acta Physiologica Scandinavica, Bd. 98, S. 232-236, 1976
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