Das Kosha-Modell im Yoga

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Die alten Lehren bieten auch noch andere Möglichkeiten, um von dem Punkt, an dem man sich gerade befindet, zum Gewahrsein erleuchteten Seins zu gelangen. In den alten Yogaschriften finden wir ein übergreifendes Konzept, wonach die Energie jedes verkörperten Wesens in fünf Hüllen oder koshas geborgen ist, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen.

Das Kosha-Modell wird erstmals in der Taittiriya Upanishad (Gambhirananda 1989) erwähnt und hilft, den inneren Weg im Yoga als schrittweise Entwicklung eines zunehmend feineren und doch ganzheitlichen Gewahrseins und Seins darzustellen. Es gibt fünf Koshas: annamaya kosha, pranamaya kosha, manomaya kosha, vijnanamaya kosha und anandamaya kosha. Die Koshas beginnen im Randbereich Ihres physischen Körpers und reichen bis in den Kern Ihres Wesens als verkörperte Seele. Sie sind kein wahrheitsgetreues anatomisches Modell. Wie Shiva Rea (1997, 43) schreibt, dienen sie vielmehr als »Metapher zur Beschreibung, wie es sich anfühlt, wenn man von innen heraus Yoga praktiziert – den Prozess der Ausrichtung dessen, was wir in der zeitgenössischen Sprache oft ›Körper, Geist und Seele‹ oder ›die Verbindung von Körper und Geist‹ nennen«.

Die Natur von Körper, Geist Atem und Weisheit erfassen

Yoga bedient sich der Kosha-Typologie, um die Natur des Seins begrifflich zu erfassen und zu erforschen sowie Körper, Atem, Geist, Weisheit und Seele (Seligkeit) zu harmonisieren. Da sie ein energetisches Ganzes bilden, sind immer alle fünf Hüllen mit allen Aspekten gleichzeitig vorhanden und wie ein Wandteppich miteinander verwoben. Hatha Yoga ist eine Möglichkeit, sich schrittweise dieser Verwobenheit bewusst zu werden, den physischen Körper mit den feinstofflichen Körpern zu verknüpfen und dabei im Gewahrsein mehr und mehr an einen Ort der Seligkeit zu gelangen. In diesem Modell ist Annamaya Kosha die Hülle des physischen Selbst und danach benannt, dass sie durch Nahrung aufgebaut wird (anna bedeutet »Nahrung«; maya bedeutet »angefüllt mit«). Yoga entsteht, wenn wir anfangen, die zahlreichen Verknüpfungen zwischen dem physischen Körper und den Energie-, Mental-, Intelligenz- und Wonnekörpern zu erforschen und zu erfahren. Im Sinne des traditionellen Hatha Yoga wäre dies die Anfängerstufe Arambha Avastha einer lebenslangen Yogasequenz.

Das Zusammenspiel der Koshas

Pranamaya Kosha oder die »Energiehülle« verbindet den physischen Körper mit den anderen Koshas, vitalisiert Körper und Geist und hält sie zusammen. Sie besteht aus prana, der Lebensenergie, durchdringt den ganzen Organismus, und manifestiert sich im steten Fluss und der Bewegung des Atems. Da der Lebensatem dem feinstofflichen Bereich angehört, kann man ihn weder sehen noch fassen, während er durch die vielen tausend nadis oder feinstofflichen Energiekanäle fließt und das gesamte physische und energetische System erhält. Auf physiologischer Ebene wird Pranamaya Kosha dem Atmungsapparat und dem Blutkreislauf zugeordnet, ist aber nicht deckungsgleich damit und lässt sich auch nicht darauf beschränken. Indem wir Pranayama praktizieren, mehren und lenken wir diese Energie, um das Zusammenspiel der Koshas fließender und harmonischer zu machen und Körper, Geist und Seele zu integrieren. Wenn wir bei der Beschäftigung mit den Asanas auch mit dem Atem im physischen Körper arbeiten – mit den Asanas spielen, sie halten, verfeinern und wieder lösen –, dehnt sich unser Gewahrsein über den physischen Körper hinaus aus. Mit Prana als unserer Quelle und unserem Führer entdecken wir allmählich seine feinstofflicheren Ausdrucksformen, die sogenannten prana vayus, von denen jedes eine einzigartige Bewegung und Wirkung besitzt. Im Hatha Yoga kann man dies als die Gefäßstufe (Ghata Avastha) betrachten.

Die tieferen Schichten der Koshas

Wenn wir in die tieferen Schichten der Koshas vordringen, gelangen wir zu Manomaya Kosha, von manas oder »Geist«, und den fünf Sinneskräften, die uns die Macht verleihen, zu denken und zu urteilen. Dies ist die Stufe der Anhäufung (Parichaya Avastha). Manomaya Kosha ist Gehirn und Nervensystem zugeordnet und unterscheidet den Menschen von anderen lebenden Organismen. Diese Hülle besitzt die Fähigkeit zur Unterscheidung, was sie zum Ursprung von Abgrenzungen wie »ich« und »mein« macht, aus denen sie Freiheit oder Knechtschaft erschafft. Der Atem steuert das Wechselspiel zwischen dieser Hülle und dem physischen Körper. Dies wird für uns spürbar, wenn geistige Belastung Atmung und Wohlbefinden beeinträchtigt oder der Atem ein Gefühl der Einheit von Körper und Geist sowie des inneren Friedens erzeugt. Wenn wir noch tiefer gehen, gelangen wir zu Vijnanamaya Kosha. Das bedeutet »aus vijnana (Weisheit) bestehend« und bezieht sich auf den reflektierenden Aspekt des Bewusstseins, der unterscheidet, entscheidet oder will. Als reflektierender Aspekt ist Vijnanamaya in unserem Bewusstsein gegenwärtig, wenn wir tiefere Einsicht in die Welt und in uns selbst gewinnen. Auch diese Hülle ist noch mit dem Körper verbunden, Veränderungen unterworfen, fühlt und denkt. Werden der physische und die feinstofflichen Körper als Einheit empfunden, vertieft sich auch die Einsicht in die Einheit von Selbst und Natur, vom Ego und dem Göttlichen. Wird diese Erfahrung von Erinnerungen – manas – überdeckt, identifizieren wir uns noch mit dem Ego, mit Vijnanamaya Kosha, nicht mit dem höchsten Selbst. Doch wenn »der Zeuge der Erfahrung in der Erfahrung des Augenblicks aufgeht«, wie Shiva Rea schreibt, schimmert Anandamaya durch.

Anandamaya Kosha die Ableitung von Seligkeit

Der Begriff Anandamaya Kosha leitet sich von ananda, »Seligkeit«, ab und wird in den Upanishaden als karana sharira oder »Kausalkörper« bezeichnet. Es ist das Bewusstsein, das immer ist, immer war und immer sein wird – auch, wenn der Geist, die Sinne und der Körper schlafen. Es manifestiert sich darin, dass wir einen Widerschein des Göttlichen erhaschen, jene absolute Glückseligkeit, die in Momenten der inneren Ruhe, des Friedens und der Gelassenheit spürbar ist. Im traditionellen Stufenmodell des Hatha Yoga entspricht dies der Stufe der Vollendung (Nispattia Avastha).   Es ist anzumerken, dass die traditionellen Ansätze zur Gestaltung von Yogaübungsfolgen für eine Praxis gelten, der man sich auf einem umfassenderen Pfad zum spirituellen Erwachen und der Transformation widmet, welcher letztlich dazu führen soll, dass man die Zyklen von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt überwindet. Viele Schüler kommen aus diesem Grund zum Yoga. Der Anteil derjenigen, die weniger tiefgründige oder hochtrabende Ziele verfolgen, ist jedoch weit höher: Diese Menschen möchten Stress abbauen, mehr Gleichgewicht in ihr Leben bringen, ihre Kraft und Beweglichkeit verbessern, eine bessere Lebenseinstellung und ein Gefühl größeren allgemeinen Wohlbefindens entwickeln. Fundamentalistische Yogis tun derartige Ziele für gewöhnlich mit der Begründung ab, dass sie ihren Ursprung in maya – der »Illusion« – hätten und die alltägliche Welt der Vielfalt und der Individualität nicht echt sei, ja, dass nicht einmal sie selbst echt seien. Für unsere Zwecke betrachten wir die Welt und unsere Erfahrung darin durchaus als echt, wenngleich sie oft von Illusionen verhangen ist, die einer Erkrankung des Körpergeists oder dem kulturellen Firlefanz entspringen, welche einen großen Teil unserer persönlichen Erfahrungen und unserer Gedanken über das Leben filtern. Ausgehend von der Vorstellung, dass wir in der Tat in einer realen Welt und in einem echten Körper leben, können wir Yogaübungsfolgen zusammenstellen, die ein breites Spektrum an Bedürfnissen, Interessen und Absichten abdecken, die einen praktischen Sinn in diesem Leben haben.

Aus:

Stephens, Mark: Yoga-Workouts gestalten, Riva Verlag, München 2014

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