Grundsätzlich herrscht Einigkeit darüber, dass Aufwärmen vor dem Trainingsbeginn oder auch vor einem Wettkampf empfehlenswert ist. Das Aufwärmen sollte dabei auf die Sportart ausgerichtet sein und neben der allgemeinen auch eine spezielle Vorbereitung enthalten. Ziel soll es sein, das Verletzungsrisiko zu reduzieren und die Leistungsfähigkeit zu steigern. Dem Dehnen werden genau diese Ergebnisse zugeschrieben, weshalb im Aufwärmprozess Stretching- und Dehnübungen weit verbreitet sind und sportartübergreifend angewendet werden. Allerdings ist die wissenschaftliche Basis der praktischen Anwendung keineswegs eindeutig und die Beurteilung der möglichen Effekte durchaus sehr unterschiedlich.
Die weite Verbreitung des Dehnens und des Stretchings basiert im Kern auf sportpraktischen Empfehlungen aus den 1980er Jahren. Damals kamen aus dem Bereich der Physiotherapie Vermutungen auf, wonach das damals weit verbreitete dynamische Dehnen gefährlich sei und eine Verletzungsgefahr für die Muskeln berge. Bei der klassischen Gymnastik und dem dynamischen Dehnen wurden Übungen federnd ausgeführt und während der Dehnung gewippt. Den ruckartigen Bewegungen wurde zugeschrieben, dass sie Verletzungen auslösen können. Zudem wurde angenommen, dass die durch die schnelle Bewegung ausgelösten refl ektorischen Hemmungen dazu führen, dass dynamisches Dehnen weniger effektiv sei als statisches Dehnen, bei dem die Dehnposition langsam eingenommen und gehalten wird.
Was soll Dehnen bewirken?
Mit dem Begriff Stretching wird im deutschen Sprachraum eine Dehnmethode defi niert, bei der die Position langsam eingenommen und über einen bestimmten Zeitraum gehalten wird. Über die Dauer, die eine solche Position gehalten werden soll, herrscht jedoch Uneinigkeit und die Angaben schwanken zwischen 5 und 60 Sekunden.(1) Das Stretching wird im Sport eingesetzt, um die Bewegungsreichweite zu verbessern und um in Form des Aufwärmens Ihren Körper vor Verletzungen zu schützen. Stretching als Trainingsmethode zur Erweiterung der Reichweite einer Bewegung ist etabliert und wird von wissenschaftlichen Studien unterstützt. In Bezug auf die Vorbereitung sportlicher Belastungen und zur Verletzungsprohylaxe zeigen Studien jedoch zunehmend, dass diese Wirkung möglicherweise nicht so eindeutig ist, wie bislang angenommen.
Entwicklungen in der Sportwissenschaft
Während die frühen Aussagen zum Dehnen fast ausschließlich auf Annahmen und zum Teil auf praktischen Erfahrungen basierten, ergaben sich in den letzten Jahren zunehmend neue Erkenntnisse aus Arbeiten der Molekularbiologie, bei denen die Strukturen der Muskulatur genauer untersucht wurden. So kommt beispielsweise der Entdeckung des Titins eine große Bedeutung zu, da es quasi als „molekulare Feder“ im Muskel verantwortlich für die Ruhespannung ist. Es sorgt als Verbindungsstück dafür, dass die Muskulatur auch in Ruhe eine bestimmte Spannung aufrecht erhält. Diese Effekte wurden zuvor dem Bindegewebe um die Muskelstrukturen herum zugeschrieben. Auch im Tierversuch zeigten sich Reaktionen der Muskulatur auf Dehnreize, die neue Erkenntnisse liefern konnten. Es ist zu hoffen, dass zukünftig Forschungsansätze auf der molekularen Ebene helfen, unklare Fragen zu beantworten. Dass der wissenschaftliche Ansatz von Bedeutung ist, möchten wir Ihnen in den folgenden Abschnitten anhand der Wirkung des Dehnens auf die Verletzungsprophylaxe zeigen.
Verletzungsprohylaxe durch Dehnen?
Für Sie als Sportler ist der Schutz vor Verletzungen sicher ein wichtiger Aspekt des Dehnens. Möglicherweise haben Sie aber auch schon mal gehört, dass Dehnen doch nicht vor Verletzungen schützen soll. Oftmals werden dazu einzelne Studien herangezogen und die Ergebnisse plakativ in eine bestimmte Richtung interpretiert. Richtig ist, dass die verletzungsprophylaktische Wirkung des Stretchings kontrovers diskutiert wird. So wurden zwischen 2002 und 2004 insgesamt 4 Metaanalysen erstellt, in denen Studien zum Thema Dehnen untersucht wurden. Metaanalysen greifen dazu auf verschiedene Studien zurück und versuchen die Effekte zusammenzufassen.( 2) In diesen genannten Übersichtsarbeiten kamen die Autoren zu dem Schluss, dass dem Dehnungstraining keine bzw. nur eine geringe Wirkung auf die Verletzungsprohylaxe zugeschrieben werden kann.
Viele Fragen bleiben offen
Wenn es um die Frage nach Verletzungsprophylaxe geht, stehen muskuläre Verletzungen wie Muskelfaserrisse oder -zerrungen im Vordergrund. Bei den insgesamt 12 Studien, die den 4 Metaanalysen zu Grunde lagen, wurden jedoch auch andere akute Verletzungen und Überlastungsschäden betrachtet. Fraglich ist, ob diese überhaupt durch Dehnübungen hätten vermieden werden können. Da dies bei der Interpretation der Ergebnisse von Bedeutung ist, müssen die Primärstudien auf die Verletzungsarten differenziert betrachtet werden. In 3 der 12 Untersuchungen wurden Muskelzerrungen und Muskelfaserrisse gar nicht erfasst. In 4 weiteren Studien, die den Übersichtsarbeiten zu Grunde lagen, wurden Muskelverletzungen und andere Verletzungsarten nicht getrennt genannt. In 4 Untersuchungen wurden die Verletzungsarten zwar getrennt erhoben, jedoch nicht getrennt ausgewertet.
Welche Verletzungen sind vermeidbar?
Sehr häufig zitiert wird die Analyse von Herbert & Gabriel(3), die allerdings nur auf 2 Untersuchungen basiert. In einer der beiden wurden gar keine Muskelzerrungen erhoben, während sie in der anderen lediglich 10,5 % ausmachten.(2) Die restlichen Verletzungen, wie
– Verstauchungen des Fußgelenks
– Ermüdungsbrüche des Wadenbeins
– Knochenhaut- und Sehnenentzündungen
– das vordere Muskellogensyndrom
– Verletzungen der Gelenke
– Meniskusverletzungen,
sind grundsätzlich nicht davon abhängig, ob gedehnt wurde oder nicht. Die letztgenannte Studie untersuchte Rekruten, die vor Märschen dehnten oder nicht. Dabei wurden in der gedehnten Gruppe weniger Zerrungen festgestellt. Diese wurden jedoch statistisch nicht ausgewertet, da nur die gesamte Verletzungsgefahr analysiert wurde. Bezogen auf die muskuläre Ebene können Effekte aber zumindest vermutet werden.
Kann Dehnen Muskelkater verhindern?
Neben der Frage nach der möglichen Verletzungsprohylaxe ist auch zu hinterfragen, ob Dehnen das Auftreten eines Muskelkaters verhindern bzw. das Abheilen beschleunigen kann. Mehrere Studien greifen in ihren Untersuchungen die Frage auf, inwiefern sich das Auftreten eines Muskelkaters vermeiden oder reduzieren lässt, in dem ein Athlet nach dem Training dehnt. Auch wenn bei diesen Untersuchungen vorrangig kurzfristige Effekte, d. h. die Wirkung nach einmaligen Dehnungsreizen, untersucht wurden, liefern die Ergebnisse Hinweise darauf, dass Muskelkater durch Dehnen ausgelöst bzw. verstärkt werden kann.(2) Muskelkater ist charakterisiert als Folge von kleinen Strukturverletzungen auf mikrobiologischer Ebene. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass der Muskelkater selber nicht aus der Verletzung, sondern vielmehr aus den darauf folgenden Umbausituationen entsteht. Es handelt sich also möglicherweise nicht direkt um einen Schaden, sondern vielmehr um einen Umbau auf muskulärer Ebene. Dehnen im Anschluss an intensives Training kann also Muskelkater verstärken. Nach dem Krafttraining ist so z. B. eher ein ungünstiger Zeitpunkt für das Dehnen.
Was bedeutet das für Ihre Sportpraxis?
Wie so oft bringt das wissenschaftliche Auseinandersetzen mit einem Thema nicht unbedingt eindeutige Antworten. Das gilt auch für das Dehnen. Nach aktuellem Stand könnte es sein, dass Dehnungsübungen kurzfristige positive Auswirkungen auf Muskelverletzungen haben könnten, wobei unklar ist, wie lange ein solcher Effekt anhält. Ob das Dehnen auch nach 20–30 Minuten sportlicher Belastung noch wirken kann, ist ebenso unklar, wie die Frage, ob sich Verletzungen überhaupt durch Dehnen vermeiden lassen. Oft lässt sich in Untersuchungen der kausale Zusammenhang für das Entstehen einer Verletzung nur schwer klären. Wenn eine Verletzung auftritt, ist die Ursache dafür schwer darin zu fi nden, ob ein Muskel gedehnt war oder nicht. Wenn Sie sich mit einem begleitenden Dehnen wohl fühlen, spricht wenig dagegen das beizubehalten. Allerdings kann auch ein dynamisches Aufwärmen ähnliche protektive Wirkungen haben!
Trainingstipps
– Statisches Stretching schadet Ihnen nicht.
– Mit Dehnen lassen sich möglicherweise Muskelverletzungen vermeiden.
– Dehnen sollte nur ein Teil Ihres Aufwärmprogramms sein.
– Dynamische Übungen, Sprünge und Prehab-Übungen sollten Ihr Aufwärmprogramm ergänzen.
Quellenangaben:
1. Leistungssport, 2005. Bd. 35 (2), S. 20–23
2. Sportwissenschaft, 2006, Bd. 36 (1), S. 23–39
3. British Medical Journal, Bd. 325, S. 1–5
Fachsprache
Titin – elastisches Protein in der Muskelstruktur, das für die Spannung und die Elastizität des Muskels verantwortlich ist. Es ist nicht an der Muskelkontraktion beteiligt.
Bindegewebe – faserartiges, festes Körpergewebe mit stützender und festigender Funktion
Metaanalyse – Studie, die mehrere Einzelstudien zusammenfasst
Meniskus – scheibenförmiger Knorpel im Knie