In diesem Artikel möchte der Verfasser der Artikelreihe über Zielsetzung in der Sportpsychologie Ihnen einen Aspekt ans Herz legen, der die Selbstmotivation und Leistungsbereitschaft des Sportlers wesentlich beeinflusst: Die „Zielvisualisierung“.
Liebe Leser, wenn Sie die vergangenen Artikel zur Thematik der Zielsetzung/Zielerreichung aufmerksam verfolgt haben, wird Ihnen aufgefallen sein, wie viele Punkte und Kriterien es bei einem professionellen „Zielsetzungstraining“ zu beachten gibt!(z. B. Sportpsychologie: Der Wirkmechanismus professioneller Zielsetzung – „Mit voller Kraft voraus!“) In diesem Artikel möchten wir Ihnen diesbezüglich noch einen Aspekt ans Herz legen, der aus unserer Sicht die Selbstmotivation und Leistungsbereitschaft des Sportlers wesentlich beeinflusst, und letztlich darüber mitentscheidet, ob der Sportler das gesteckte Ziel auch wirklich erreichen wird. Bei diesem Aspekt handelt es sich um die so genannte „Zielvisualisierung“ beziehungsweise die innere Repräsentation, die mentale Vergegenwärtigung seines Ziels im Moment der Zielerreichung.
Sich an die Zukunft erinnern
Ausgangspunkt für diese emotionale und mentale Strategie ist demnach die gedanklich vorweggenommene Zukunft. Man stellt sich also schon heute so intensiv wie möglich vor, wie man den Zeitpunkt der zukünftigen Zielerreichung, des Erfolgs erlebt. Man „erinnert“ sich sozusagen an die erfolgreiche Zukunft („Begin with the end in mind“)! Das Vorwegnehmen der Erreichung des Ziels bewirkt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in positiver Art und Weise. Diese wiederum hat positive Auswirkungen auf das Selbstvertrauen und die Selbstmotivation in der Gegenwart.
Viele Schritte des Zielsetzungstrainings erfolgen in der Regel auf der gedanklichen, der kognitiven Ebene. Das volle Potenzial, das in der Zielarbeit liegt, kann aber nur genutzt werden, wenn das Zielsetzungstraining „ganzheitlich“ erfolgt, indem neben den kognitiven Fähigkeiten auch emotionale und körperliche Erlebnisse und Erfahrungen einbezogen werden. Die moderne Gehirnforschung zeigt, wie eng Körper, Geist und Seele miteinander verzahnt sind, und wie stark sie sich gegenseitig beeinflussen. Gerade im Sport wird dieses Phänomen immer wieder auf beeindruckende Weise sichtbar. Und es wäre doch schade, wenn der Sportler die sich daraus ergebenden Möglichkeiten nicht nutzen würde.
Ganzheitliche Zielvisualisierung
Eine gut arrangierte Zielvisualisierung bewirkt eine maximale „Aufladung“ eines Ziels mit positiver Motivationsenergie. Sie haucht einem Ziel erst so richtig Leben ein, macht es „sexy“ und unwiderstehlich: Das Ziel bekommt eine magische Sogwirkung und Anziehungskraft! Man will dieses Ziel unbedingt erreichen!
Wichtig bei der Zielvisualisierung, dem Vorwegnehmen der Zielerreichung, ist die Berücksichtigung unserer kompletten sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten. Ganzheitliche Zielvisualisierung heißt deshalb eben nicht nur die Nutzung allein der visuellen Wahrnehmung und Vorstellung. Intensiver und wirksamer wird das Zielsetzungstraining in diesem Zusammenhang durch die Einbeziehung sämtlicher Wahrnehmungskanäle. Also durch die Beantwortung der Frage: „Was werde ich im Moment des Erfolgs, der Zielerreichung sehen, hören und fühlen? Wie ist mein Körperausdruck? Was werde ich vielleicht sogar riechen und schmecken?“
Dies ist eine zutiefst individuelle Angelegenheit, und der Sportler sollte hier genau empfinden und erleben, was ihm persönlich maximale Begeisterung, Motivation und Befriedigung verschafft. Dabei können durchaus kleine Details und Nuancen in der Wahrnehmung des Athleten eine große Rolle spielen.
Ein Sportler, der sich zum Beispiel auf einen bestimmten Marathon-Wettkampf vorbereitet, und sich vorgenommen hat, diesen in einer bestimmten Zeit zu bewältigen, könnte sich den Moment der Zielerreichung beispielsweise folgendermaßen vorstellen: Er sieht sich die letzten Meter der Strecke auf das Ziel zulaufen und dann die Ziellinie überschreiten. Dabei sieht er das begeisterte Publikum im Zielbereich. Er hört, wie die Zuschauer laut seinen Namen rufen und ihn anfeuern. Auf den letzten Metern und beim Überqueren der Ziellinie empfindet er ein großartiges Gefühl der Genugtuung und Freude, das sich von der Körpermitte ausgehend warm und intensiv in den ganzen Körper ausbreitet. Dabei streckt er als Siegerpose energisch beide Arme zum Himmel, ballt die Hände zu Fäusten und sagt zu sich selbst: „Du hast es gepackt, du hast es einfach drauf!“
Aufgabe des Sportpsychologen
Damit sich ein solch intensiver psychophysischer Zustand gut in Gehirn und Körper verankern kann (zu einem neuronalen Netzwerk werden kann) ist es sinnvoll und notwendig, dass der Sportler ihn regelmäßig einnimmt und erlebt (da auch die mentalen und emotionalen Ebenen genauso trainiert werden müssen, wie zum Beispiel konditionelle Fähigkeiten). Damit sich der Sportler ganz und gar auf seinen „Erfolgszustand“ einlassen und konzentrieren kann (und zum Beispiel nicht anfängt darüber nachzudenken, ob er auch an alles gedacht hat), macht es unter Umständen Sinn, hierbei die Unterstützung eines Sportpsychologen einzufordern, der den Sportler in diesen Zustand hineinführt.
Jörg Schönenberg