Der europäische Marathon in der Krise

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1990 trainierte ich eine kleine Gruppe Läufer. Der Beste von ihnen war Richard Nerurkar. Im Jahr zuvor hatte er im britischen Team die World Cross-Country Championships geschafft, doch im 10.000 m Wettkampf der Commonwealth Games nur den 5. Platz errungen.

Richard wusste, dass er sehr hart trainieren musste, wenn er es im britischen Team der European Championships schaffen wollte. Seit seinem Jahr in Russland 1985 lief er durchschnittlich 160 km in der Woche, und er hatte seine Zeit für 5.000 m auf 13:27 verbessert. So vermuteten wir, dass er es in den AAA Championships auf etwa 28 Minuten bringen könnte – das sollte reichen.
Es stellte sich heraus, dass es reichte. Er schaffte es und fuhr zu den europäischen Meisterschaften nach Split. Beim Glockenschlag war er auf dem 2. Platz, fiel aber in der letzten Runde auf Platz 5 zurück.
Im nächsten Jahr steckte Richard seine Ziele etwas höher und trainierte für die World Championships in Tokio. Er wusste, dass er nur einen Tag Zeit haben würde, um sich an die Hitze zu gewöhnen. Als Richard gut vorbereitet im heißen und feuchten Tokio ankam, qualifizierte er sich mit Leichtigkeit für das Finale und lief seine persönliche Bestzeit von 27:57, wurde aber wieder beim Kampf um die Medaillen überholt. Da wussten wir, dass seine Zukunft im Marathon liegen würde. Nach einem enttäuschenden 10.000 m Rennen bei den Olympischen Spielen in Barcelona 1992 wurde das dann tatsächlich sein Ziel.
Ein Jahr später gewann er den World Cup Marathon mit 2:10:03 – der erste bedeutende Marathontitel für einen britischen Läufer seit 1976. Bei den Olympischen Spielen in Atlanta holte er den 5. Platz und setzte seine persönliche Bestzeit 1997 in London mit 2:08:36.
Lange Rede, kurzer Sinn: Topmarathonläufer haben eine Vergangenheit als Bahnläufer. Und es ist ziemlich selten, dass ein Weltklasse-Marathonläufer 10.000 m nicht in einer sehr guten Zeit laufen kann. Steve Jones wechselte direkt nach den Olympischen Spielen 1984 von der 10.000-Meter-Disziplin zum Marathon und brach den Weltrekord in Chicago. Richard Nerurkar lief seine beste 10.000-Meter-Strecke (27:40) nur 6 Wochen nach seiner ersten Marathonteilnahme.
Es ist offensichtlich, dass immer mehr gute Läufer zum Marathon kommen, wenn es in den 5- und 10-Kilometer-Distanzen hohe Standards gibt. 1989 war Richard nur 9. in Großbritannien mit seinen 13:27 über 5.000 m. Also wählte er natürlich die 10-Kilometer-Strecke. Mit derselben Zeit wäre er 2003 an der Spitze der britischen Platzierung gewesen.
Wenn man 1990 für 10 Kilometer 28:30 brauchte, dann schaffte man es nicht in die Top 10 in Großbritannien. 2003 wäre man damit Zweiter geworden. Es hat gute Gründe, dass immer weniger wirklich gute Läufer Marathon laufen: Sie können nationale und internationale Titel gewinnen, wenn sie kürzere Strecken laufen – und sie können weltweit jährlich an bedeutend mehr Wettkämpfen teilnehmen.
Bevor wir uns zu dem Urteil hinreißen lassen, dass die Standards immer schlechter werden, sollten wir die Tatsachen aus einer anderen Perspektive betrachten. Seit Mitte der 1950er Jahre bin ich in der Läuferszene. Mein erster Held war der Tscheche Emil Zatopek, der in Helsinki 3 Goldmedaillen gewann. Ich erinnere mich an die Zeit, als Ungarn das bestimmende Land im Langstreckenlauf war und alle Weltrekorde ab 1.500 m und aufwärts hielt.
Davor waren Finnland und Schweden die stärksten Nationen der Welt, gefolgt von den Läufern aus der ehemaligen UDSSR – Kuts und Boltonikov – und Polen, vor allem Krzyszkowiak. 2003 erreichte nur ein Läufer aus diesen 6 Ländern die Weltklasse im Langstreckenlaufen: der Ukrainer Sergiy Lebed.
Aus ganz Europa schaffen es nur 4 Männer in die Top 50 der 5.000-Meter-Läufer, 5 bei den 10.000-Meter-Läufern und 7 bei den Marathonläufern. Die Distanzstrecken bei den Männern werden von den Afrikanern dominiert. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis dies auch bei den Frauen der Fall sein wird.
Momentan gibt es noch einige international erfolgreiche Läuferinnen aus Nordeuropa. Das hängt nicht damit zusammen, dass die Frauen besser trainieren als die Männer. Es ist lediglich eine Folge dessen, dass aus kulturellen Gründen nur wenige afrikanische Frauen die Möglichkeit haben, ihr Talent zu entfalten – im Gegensatz zu tausenden Männern und Jungs aus Kenia, Äthiopien, Marokko und Südafrika.
Die Situation wird sich vorerst auch nicht verändern, denn auch andere afrikanische Länder schlagen nun diesen Weg ein. Uganda, Eritrea und Ruanda gewannen 2004 Team-Medaillen bei den World Cross-Country. Nur ein europäisches Land, Großbritannien, holte dabei eine Medaille.
Großbritannien hält sich im europäischen Vergleich also nicht schlecht, aber es bleiben  2 Fragen offen:

  •  Warum sind die Afrikaner so viel besser als andere Teilnehmer?
  •  Warum verschlechtert sich der Standard der Europäer?
  • Kurz gefasst ist die Antwort auf die erste Frage: Laufen ist ein Sport für arme Leute. Alles, was man braucht, sind Talent und harte Arbeit. In Afrika gibt es Millionen armer Menschen. Und sie sind bereit hart zu arbeiten, denn sie haben nichts zu verlieren. Im Gegensatz dazu fühlen sich die jungen Männer der westlichen Welt mehr zu den „wohlhabenden“ Sportarten wie Skifahren, Autorennen, Radfahren, Rudern, Triathlon und Snowboarden hingezogen. Der Verfall des nordeuropäischen Laufens hat seinen Ursprung im Wohlstand.

    Laufen als Teil der Konsumgesellschaft

    Die Tatsache, dass immer mehr Menschen laufen, hat fast keinen Einfluss auf internationale Erfolge, weil die Motivation sich verändert hat. Wir können aus unserem kulturellen Raum nicht heraus – wir haben mehr Nahrung, mehr Freizeit, mehr Geld, mehr Maschinen und mehr Übergewicht, aber auch mehr Diätbücher, mehr Discos, mehr Gymnastikhallen, mehr Sportwissenschaftler und mehr Freizeitklubs.
    Das Laufen ist nicht länger ein Sport für hart trainierende Außenseiter. Es ist ein Teil der Konsumgesellschaft geworden, eine Freizeitaktivität, die ein bisschen aus Bewegung besteht, ein bisschen Gemeinschaftserlebnis ist und vor allem bedeutet, sich eine teure Designerausrüstung zu kaufen.
    Ich will nicht sagen, dass wir nie mehr klasse Läufer hervorbringen werden, aber es werden nur einige wenige sein. Die Talentiertesten werden wissenschaftlich bestens gehegt und gepflegt und wie teure Güter gehandelt werden.
    Welche Eigenschaften muss ein Weltklasseläufer haben? Zunächst muss er die Grundvoraussetzungen fürs Laufen erfüllen, d. h. er muss ein hohes VO2max, einen schlanken Körper und einen niedrigen Ruhepuls haben und er muss 5.000 m in 13:20 laufen können. So jemanden wird man wahrscheinlich bei den unter 17- oder unter 20-Jährigen finden, z. B. bei den europäischen Junior-Meisterschaften. Dann muss der Kandidat die Bereitschaft mitbringen,, hart zu trainieren, aber er muss auch körperlich in der Lage dazu sein, die Menge harten Trainings gut wegstecken zu können, ohne sich zu verletzen. Und dann muss er noch den Geist eines Marathonläufers entwickeln können, nämlich den unbedingten Wille zu gewinnen und die Geduld, 2 Stunden abzuwarten, bevor der Angriff losgeht.
    Welches Training wird dieser Sportler durchlaufen? Vor einigen Jahren, beschrieb ich in meinem Buch „The Complete Distance Runner“ ein Training für denjenigen, der 10 Kilometer in 27 Minuten laufen möchte:

    • Sonntag: morgens 32 km, nachmittags 10 km, inkl. 12 x 150 m schnell
    • Montag: morgens 13 km konstant, nachmittags 10 x 1 km in 2:45
    • Dienstag: morgens 13 km konstant, nachmittags 16–19 km Fartlek
    • Mittwochs: morgens 13 km leicht, nachmittags 8 x 800 m in 2:07 plus 10 x 400 in 61–63 Sekunden
    • Donnerstags: morgens 13 km leicht, nachmittags 3 Sätze von 10 x 250 m schnell
    • Freitags: morgens 13 km leicht, mittags 13 km schnelles Tempo, nachmittags 13 km leichtes Fartlek
    • Samstags: morgens 13 km leicht, nachmittags Bahnrennen im Verein

    Insgesamt: ca. 192 km

    Man vergleiche dies nun mit einer typischen Trainingswoche von Richard Nerurkar, mit der er sich Mitte der 1990er Jahre auf den Marathon vorbereitet hat:

    • Sonntags: morgens 35 km, leicht anfangen, schnell enden, nachmittags Gymnastik und Schwimmen
    • Montags: morgens 8 km leicht, nachmittags 11 km inkl. Sprints und Schwimmen
    • Dienstags: morgens 10 km konstant, nachmittags 16 km, inkl. 6 km im Schwellentempo
    • Mittwochs: morgens 16 km inkl. 3 x 3.000 m in 8:30 (5 Minuten Erholung), nachmittags 10 km leicht und Schwimmen
    • Donnerstags: morgens 8 km konstant, nachmittags 10 km leicht und 10 x 100 m Schreiten
    • Freitags: morgens 10 km, nachmittags Bahnarbeit, 10 x 1.000 m mit durchschnittlich 2:45 (2:30 Erholung)
    • Samstags: morgens 16 km konstant, nachmittags 11 km

    Insgesamt: 172 km plus Schwimmen und Übungen

    Meiner Ansicht nach ist dies das höchste, das man als Distanz zurücklegen kann, ohne dass der Trainingseffekt kontraproduktiv wird. Aber Richard hat oft morgens noch einen 5–8 km Lauf eingeschoben wenn er an einem Höhenluftcamp teilnahm, und damit kam der wöchentliche Kilometerstand auf bis zu 225. Sowohl im kenianischen als auch im mexikanischen Trainingscamp, an dem wir teilnahmen, wurden 3 Einheiten täglich und 240 km in der Woche als ziemlich normal angesehen.
    Wie kann man das noch verbessern? Die Antwort liegt in der Wissenschaft verborgen. Der Erschöpfungszustand des Sportlers muss effizienter überwacht werden. Eine tägliche Beobachtung der Stresshormone im Blut würde es den Trainern ermöglichen, das Training anzuziehen, wenn sich der Sportler gut erholt hat, und es abzumildern, wenn er zu erschöpft ist.
    Ein angenehmes Trainingscamp – mit gutem Essen, netter Gesellschaft, regelmäßigem Schwimmen, Sauna und Massage – lässt einen Sportler (und seinen Trainer) mit einem größeren Trainingsvolumen klarkommen. Wir müssen nur noch die jungen Männer finden, die sich darauf einlassen. 1990 war die Marathonbestzeit bei 2:07:15 und steht heute bei 2:04:26. Diese Verbesserung haben wir einer Reihe gut organisierter Wochenendtrainings und wissenschaftlichen Fortschritten zu verdanken.

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