Inzwischen sind einige Monate seit der Einführung der neuen Wettkampfregeln im Judo vergangen und zahlreiche Turniere auf verschiedenen Niveaus sind mit den neuen Regeln durchgeführt worden. Zeit für einen Rückblick.
Wie schon vor vier Jahren erzeugten die neuen Regeln auch in diesem Zyklus zu Beginn viel Wirbel. In Artikel 1 zu diesem Thema wurden die neuen Regeln aufgezeigt und mit einer Begründung der IJF ergänzt. Nach der Bekanntgabe der neuen Regeln wurde auf diversen Foren, Chatrooms und an verschiedenen Wettkämpfen neben der Matte viel diskutiert. Meist waren die Äußerungen sehr kritisch, wie so oft zu beobachten, wenn sich Gewohntes ändert. Die Meinungen sind jedoch nicht nur negativ, viele Trainer differenzieren und können einigen neuen Regeln durchaus auch Positives abgewinnen.
Beobachtungen und Meinungen zu den neuen Regeln
Leider kam es bei den ersten Turnieren zu ein paar unerfreulichen Zwischenfällen, was Kritiker noch kritischer werden ließ. So wurden bei den ersten großen Wettkämpfen die Kämpfe an den verschiedenen Kampftagen sehr unterschiedlich beurteilt. Die Unsicherheit der Kampfrichter bei der Umsetzung war deutlich zu spüren, was wiederum die Unzufriedenheit der Athleten und Trainer erhöhte.
In Düsseldorf im Finale bis 73 kg wurde zum Beispiel der Niederländer Dex Elmont wegen „ans Bein fassen“ disqualifiziert. Während eines O-uchi-gari-Angriffs griff der Niederländer reflexartig mit der Hand ans Bein. Diese Handlung erhöhte bisher die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs einer Technik und gehört(e) zum bisherigen Repertoire des Niederländers. Eine schöne und völlig ungefährliche Technik, womit man Ippon erzielen kann, doch mit der neuen Regelung gehören diese und noch andere spektakuläre Techniken der Vergangenheit an.
Wie erklärt man das nun den Zuschauern? Man wollte doch mit den neuen Regeln eigentlich wieder „mehr Judo“ auf die Matte bringen? Die Regelung, „nicht mehr ans Bein greifen“ zu dürfen, ist wohl die umstrittenste, wenn man sich mit Trainern, ehemaligen und aktuellen Athleten und Judospezialisten unterhält. Durch diese Regelung gehen diverse Techniken des „ursprünglichen“ Judos verloren. Techniken, die im klassischen Gokyo, in diversen Katas verankert sind. Das wirft die Frage auf, ob mit dieser Regelung Judo zu stark beeinflusst wird und Judo noch die gleiche Sportart bleibt. Welche Folgen bringt diese Änderung generell für die Sportart Judo? Judo besteht nicht nur aus Wettkampf, steht vielmehr auf mehreren Pfeilern, welche sich gegenseitig beeinflussen. Viele erfahrene Trainer äußern sich hierzu mit Bedauern, vielleicht auch weil sie die Folgen nicht einschätzen können.
Einige aktuelle Trainer von Weltklasse-Judokas sind der Meinung, dass die neuen Regeln vor 4 Jahren bereits genug verändert haben und eine deutlichere Regelumsetzung, also konsequentere Bestrafungen im richtigen Moment, das destruktive und unriskante Judo hätte bekämpfen können. Dann hätte man nicht so viel und Grundsätzliches ändern müssen und den gleichen Effekt gehabt. Gleichzeitig wären viele schöne Techniken, wie Te-guruma, Kata-guruma oder ein Sode außen eingedreht (mit Hilfe der Hand geworfen) dem Judo erhalten geblieben. „Diese Würfe sind super spektakulär und alle Judofans finden es schade, dass diese Techniken in Zukunft nicht mehr zu sehen sind“, äußert sich ein Trainer beispielhaft für viele Trainerkollegen.
In Bezug auf die Shido-Bestrafungen, machte es den Anschein, dass man an den ersten Turnieren ein Exempel statuieren wollte. Viele, zu viele Kämpfe wurden über Strafen entschieden. Strafen wurden zu schnell und zum Teil auch willkürlich vergeben.
Auch Neil Adams, mehrfacher Europa- und Weltmeister und zweifacher Vize-Olympiasieger, stellt dieses Problem in den Vordergrund. Das Problem nämlich der Auslegung der Bestrafungen durch die Kampfrichter. Zwar ergeben die Strafen keine direkten Wertungen mehr und doch entscheiden bei Gleichstand der Wertungen die Bestrafungen den Kampf. Indirekt bestimmen die Bestrafungen auch die Dynamik und den Verlauf eines Kampfes, vor allem wenn man die vielen Hansokumake durch Bestrafungen der letzten Monate berücksichtigt. Neil Adams beobachtete auch, dass an den verschiedenen Turnieren oft am ersten Tag anders als am zweiten Tag gerichtet wird. Er fordert eine deutlichere Strategie der Kampfrichter. Die Kampfrichter sollen im Vorfeld besser instruiert und geschult werden. „This way the coaches, fighters and referee’s will all be on the same page”, so Neil Adams auf Facebook nach seiner Rückkehr vom Grand Slam in Aserbaidschan.
An dieser Stelle müssen jedoch auch die Kampfrichter verteidigt werden, die sich an regelmäßig ändernde Wettkampfregeln gewöhnen müssen. Gerade am Ende des letzten Olympiazyklus hatte man den Eindruck, dass die Kampfrichter endlich den richtigen Umgang mit den damaligen Änderungen gefunden hatten. Es ist also eine Frage der Zeit, dass sich auch die aktuelle Situation hinsichtlich Kampfrichterverhalten zum Positiven verbessern wird.
Die Änderung, dass Bestrafungen gleichzeitig keine Wertungen mehr ergeben, lassen Kämpfe meist bis zum Schluss interessant bleiben, wenn das Niveau der Athleten ungefähr gleichwertig ist. Ist eine physische Überlegenheit eines Kämpfers zu beobachten, wird durch diese Regelung leider nicht automatisch mehr Judo gezeigt, sondern der Gegner oft durch bis zum Hansoku-make hochgestraft. Dies entspricht nicht den eigentlichen Zielen der IJF. Gleichzeitig wird durch die Regeländerung „ nicht mehr mit zwei Händen den Griff lösen zu dürfen“ den Athleten eine taktische Möglichkeit zu reagieren genommen. Das „nicht mehr mit zwei Händen lösen dürfen“ macht die ohne hin schon physisch starken Kämpfer noch stärker. Und die physisch starken Judoka müssen nicht unbedingt auch die technisch starken Judoka sein. Eine weitere Folge dieser Bestrafungsmöglichkeit ist, dass Kämpfe bei in gleicher Auslage kämpfenden Paaren deutlich langweiliger zu betrachten sind, da der Griff kaum noch gelöst wird oder gelöst werden kann.
In vielen Gesprächen mit Athleten und Trainern führte vor allem auch die Regel des „Wiegens am Vorabend“ im Regeländerungskatalog zu Diskussionen. Für viele Judokas ist vor allem die Begründung, dass diese Praktik die Gesundheit der Athleten schützen soll, unverständlich. Erfahrungen und Berichte von Athleten und Trainern im Ringersport, die dieses Verfahren kennen, widersprechen dieser Begründung. Extremes „Abkochen“ (kurzfristiger Gewichtsverlust durch Wasser) ist die Folge. Nicht wenige Athleten sind mit dem aktuellen Ablauf des Wiegens, also Wiegen am Vorabend, am Kampftag bereits zu schwer für die nächsthöhere Gewichtsklasse. Einige Judokas haben nach Bekanntgabe dieser neuen Regelung auch in eine tiefer gelegene Gewichtsklasse gewechselt. Wir dürfen gespannt sein, wie die Auswertungen der Wiegekontrollen ausfallen werden und welche Schlüsse daraus gezogen werden.
Gemischte Rückmeldungen hört man über die neue Konstellation der Kampfrichter. Einige stören sich über das dauernde Einmischen der nicht sichtbaren Außenrichter über Mikrofon, andere sind froh über eine dadurch faire und meist richtige Bewertung der Techniken. Da nur noch ein Kampfrichter auf der Matte steht, ist das Kampfgeschehen angenehmer zu beobachten und dadurch auch übersichtlicher.
Fazit
In einem Interview an den Europameisterschaften in Budapest äußerte sich Marius Vizer, Präsident der IJF, wie folgt zu den neuen Regeln und zu dessen Kritikern:
„Wir haben auf Basis von Evaluationen verschiedener Instanzen wie die unseres technischen Teams, des Ausbildungsteams, der Kampfrichter und auch eines Teams aus den weltbesten Coaches der Welt einen Beschluss gefasst. Und diese Menschen wissen besser, was gut ist für unsere Sportart als jeder einzelne. Wir wollen eine weltweite, positive Entwicklung des Judos bewirken. Aber natürlich kann sich jeder dazu äußern und auch Kritik anbringen.“ (übersetzt aus dem Englischen)
Modernisieren und eine Sportart mit neuen Regeln zeitgemäß verändern, macht Sinn und lässt Judo interessant bleiben. Gerade in einer Zeit, in welcher viele Sportarten bei den Olympischen Spielen immer wieder zu Diskussion stehen. Viele Regeländerungen sind die Folge dessen, weil man die Sportart für die Allgemeinheit, also das Fernsehen interessanter machen will. Dies ist wünschenswert. Doch jeder, der dem Judo verbunden ist, wünscht sich auch, dass Judo Judo bleibt. Neben all den neuen Regeln, die unsere Sportart spannender für die Allgemeinheit machen sollen, sollte jedoch unbedingt auch in andere Richtungen gedacht werden. Wie kann man zum Beispiel die Stars unserer Sportart besser vermarkten? Wird Judo nicht erst interessant, wenn man die Athleten kennt?
So meinte ein erfolgreicher Trainer in einem Gespräch: „Judo ist einfach keine Live-Sportart für jedermann, wir müssen den Zuschauern das Resultat präsentieren. Zum Beispiel einen tollen Uchi-mata oder eine spektakuläre Fegetechnik! Desweiteren müssen die Athleten viel mehr in den Focus gerückt werden. Einen professionell zusammengestellten TV-Zusammenschnitt von einem Weltturnier, was gibt es Spektakuläreres!“
Karin Ritler Susebeek