Während Kinder wachsen und Muskelmasse entwickeln, entwickeln sie auch vermehrt Kraft. Diese Kraftsteigerungen erfolgen unabhängig vom Training, d. h. Kinder werden bis zur vollen Reife größer und kräftiger.
Z. B. kann ein 6-jähriger Junge im Durchschnitt 5 Liegestützen ausführen, ein 12-jähriger kann 15 und ein 18-jähriger 25 Liegestützen ausführen. Demgegenüber kann ein 6-jähriges Mädchen ebenfalls 5 Liegestützen ausführen, aber ein 12-jähriges Mädchen nur 12 und ein 18-jähriges Mädchen schafft sogar auch nur 12 Liegestützen. Dies ist das übliche Entwicklungsmuster für Jungen und Mädchen: als kleine Kinder sind beide ähnlich, nach der Pubertät jedoch beschleunigt sich die Kraftentwicklung der Jungen, während die Mädchen ein Plateau erreichen.
Der Grund dieser Verschiedenartigkeit zwischen den Geschlechtern liegt hauptsächlich in den hormonellen Änderungen, die während der Pubertät eintreten. Testosteron, das sich bei Jungen schnell erhöht, programmiert außerordentliches Knochenwachstum im Oberkörper und muskulöse Hypertrophie. Demgegenüber programmiert Östrogen, das sich bei den Mädchen erhöht, außerordentliche Knochenentwicklung im Becken und erhöhte Körperfettablagerung. Diese Änderungen bedeuten, dass sich die Kraft der Jungen auf natürliche Weise 18–20 Jahre lang erhöht, während die Kraft der Mädchen, besonders in den oberen Gliedern, wohl kaum über 14 Jahre hinaus natürlich zunimmt.
„Faserisolation“
Nicht die ganze natürliche Kraftentwicklung liegt in den Zuwächsen der Muskelmasse begründet. Kraft verbessert sich auch aufgrund der Reifung der neuralen Systeme. Eine der großen Veränderungen, die während der Kindheit auftritt, ist die Myelinisation der Nervenfasern. Myelinisation, in Laienbegriffen ausgedrückt, ist die „Isolation“ der Fasern, die eine schnellere Leitfähigkeit des elektrischen Impulses erlaubt. Volle Myelinisation ist in der Adoleszenz abgeschlossen, sodass bis dahin die Koordination und Reaktion limitiert ist.
Es gibt einige Beweise, die zeigen, dass muskulöse Zunahme sich auch mit dem Alter verbessert. Erwachsene sind in der Lage, mehr motorische Einheiten heranzuziehen, wenn sie maximale Anstrengungen ausführen, als Kinder. Außerdem entwickelt sich die Koordination der synergistischen und entgegenwirkenden Muskeln mit dem Alter. Ein Kind hat z. B. bei der Ausführung der Liegestützen während der Auf- und Ab-Bewegung häufig Schwierigkeiten, einen geraden Rücken, sowie eine stabile Becken- und Schulterposition zu bewahren. Dies ist der Grund, warum Kinder Liegestützen häufig mit hochgestrecktem Hintern, runden Schultern und den Händen vor dem Kopf ausführen. Erst wenn alle stabilisierenden Muskelgruppen entwickelt sind und richtig mit der treibenden Kraft koordiniert werden, kann eine gute Form bei Körpergewichts- und Freigewichts-Übungen wie Liegestützen erzielt werden.
Krafttraining kann funktionieren
Die Kraft nimmt mit dem Alter aufgrund des Körperwachstums und der Entwicklung des neuromuskulären Systems auf natürliche Weise zu. Kann die Kraft bei Kindern trotzdem durch Training erhöht werden? Der Großteil der vorhandenen Forschung liefert überzeugende Beweise, dass dies möglich ist. Eine der wichtigsten Studien, die das Krafttrainingspotenzial junger Kinder erforschte, wurde 1990 von Ramsay und seinen Kollegen durchgeführt. Sie studierten die Effekte eines 20-wöchigen Krafttrainingsprogramms auf 9- bis 11-jährige Jungen – genau genommen ging es um Kraft bei Ellbogenbeugung und Kniestreckung. Der Trainingsplan enthielt 3 Sessions pro Woche, mit 3–5 Sätzen pro Übung, durchgeführt bei maximaler Intensität von 8–12 Wiederholungen. Dies bezieht sich auf Gewichte, die bei guter Form nur 8- bis 12-mal wiederholt werden können. Folglich involvierte der Trainingsplan dieser Jungen ausreichende Dauer, Intensität, Volumen und Frequenz, um ein wirkungsvolles Trainingsmaß zu garantieren.
Ramsay fand heraus, dass die Kraft beim Ellbogenbeugen um 37 % und die Kraft beim Kniestrecken um 21 % zunahm, im Vergleich zur nichttrainierenden Kontrollgruppe, die keine Verbesserung zeigte. Dies ist der Verbesserungsskala sehr ähnlich, die ein Erwachsener nach einem ähnlichen Trainingsplan erwarten könnte. Dieses Resultat bestätigt, was andere frühere Studien auch gezeigt hatten – dass nämlich junge Kinder ihre Kraft um die gleiche relative Menge wie Erwachsene erheblich verbessern können, wenn Intensität, Volumen, Frequenz und Dauer der Übungen ausreichend sind.
Aber keine Hypertrophie
Weitere Entdeckungen der Ramsay-Studie sind auch sehr interessant. Während die Jungen in der Studie ihren Kraftausstoß erheblich steigerten, zeigte die computergesteuerte Tomographie in der 20-wöchigen Trainingszeit keine Zunahme an Muskelgröße in den Armen und Schenkeln. Folglich müssen die Zunahmen an Kraft also von den Verbesserungen im neuromuskulären System herrühren. Ramsay und andere lieferten den Beweis dafür, indem sie aufzeigten, dass sich die motorische Aktivierung nach 10 Wochen um 9–12 % und um weitere 2–3 % am Ende des 20-wöchigen Trainings verbesserte. Dies heißt, dass die Jungen in der Lage waren, nach dem Training mehr Muskelfasern heranzuziehen und folglich mehr Kraft zu produzieren. Es wird allgemein anerkannt, dass bei Erwachsenen Kraftzunahmen sowohl aus Hypertrophie als auch aus neuromuskulären Verbesserungen resultieren. Jedoch scheint es, und andere Studien unterstützen dies, dass Kinder nur aufgrund neuromuskulärer Verbesserungen an Kraft im Training zunehmen.
Das Entwerfen von Programmen
Forschungen, die beschreiben, wie ein Kind Kraft durch natürliches Wachstum und durch Training entwickelt, helfen uns, passende Krafttrainingsprogramme für junge Athleten zu entwerfen. Vor der Pubertät besitzen Jungen und Mädchen ähnliche Kraft, und in diesem Alter entwickeln Kinder neuromuskuläre Systeme. Krafttraining für vorpubertäre Athleten sollte sich auf Fähigkeiten und Techniken konzentrieren, da alle Verbesserungen vom Krafttraining von der neuromuskulären Entwicklung herrühren. Dies ist der ideale Zeitpunkt, um Koordination und Stabilität zu lehren.
Kinder sollten in den Bewegungen aller großen Muskelgruppen, in Freigewicht und Körpergewicht mit leichten Lasten unterrichtet werden. Beispielsweise mit Power-Cleans, Bankpressen, Liegestützen und Kniebeugen. Jedes Kind, das darin unterrichtet wurde, hat einen Vorteil, da gute Technik in jungen Jahren erlernt wird, was wiederum erlaubt, dass hoch intensives Training sicher und effektiv durchgeführt werden kann, wenn das Kind älter wird. In den Jahren vor der Pubertät sollte der Haltung und der Stabilität besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, da Kinder gute Kraft in den Rumpfmuskeln benötigen, um den Körper in korrekter Weise zu stützen.
Nach der Pubertät
In der Pubertät profitieren Jungen von einer massiven Zunahme an Kraft aufgrund der großen Zunahme an Testosteron, was zu Muskel-Hypertrophie führt. Mädchen genießen nicht die gleichen Kraftzuwächse, aufgrund einer geringeren Entwicklung an Muskelmasse nach der Pubertät, besonders im Oberkörper. Im Alter von 18 Jahren haben Mädchen nur 50 % der Muskeln der Jungen in den oberen Gliedmaßen und 70 % in den Muskeln der unteren Gliedmaße. Fast alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezüglich der Kraft sind in den Unterschieden bezüglich der Muskelmasse begründet. Wenn die Kraft im Verhältnis zum Volumen der Gliedmaße errechnet wird, d. h. Kraftausstoß pro Größe des Muskels, dann haben beide Geschlechter die gleiche Kraft. Mädchen müssen diesen natürlichen Nachteil kompensieren, indem sie dem Krafttraining nach der Pubertät Priorität einräumen, andernfalls stagniert die Kraft. Kraft bedarf besonderer Aufmerksamkeit der Mädchen, die Sport mit Oberkörper-Komponenten betreiben.
Kraftprogramme für Mädchen ab der Pubertät müssen wirkungsvoll sein, mit ausreichender Frequenz, Volumen und Intensität. Deshalb ist es sinnvoll, bereits vor der Pubertät eine gute Technik aufzubauen, da sie ab der Pubertät, wenn junge Athleten Gewichte mit einer Intensität von 8–12 RM drücken müssen, bereits eine gute Technik und genügend Kraft in den stabilisierenden Muskeln haben, um die Übungen sicher und effektiv durchzuführen. Denken Sie daran, dass Intensitäten unter 12 RM auf die muskulöse Kraftausdauer und nicht die maximale Kraftentwicklung zielen. Wenn Sie also wollen, dass Kinder an Kraft gewinnen, müssen sie genügend Gewichte heben, genau wie Erwachsene. Ich empfehle, dass die meisten weiblichen Athleten den Kraftraum ab der Pubertät 2–3 mal die Woche besuchen, da es ihre geringere maximale Kraft ist, die der Hauptbegrenzungsfaktor für Geschwindigkeit und Leistungsvermögen bei Frauen ist.
Jungen genießen mehr natürliche Entfaltung während der Pubertät und für eine längere Zeit danach. Genau genommen dauern ihre Höchstzuwächse an Kraft noch bis zu 18 Monate nach ihren Höchstzuwächsen an Größe an. Trotzdem ist Krafttraining von der Pubertät an für Jungen in hohem Grade vorteilhaft. Die Pubertät stellt aufgrund des hohen Testosteronhaushalts eine großartige, einmalige Gelegenheit für sie dar, Kraft durch Training zu entwickeln. Wenn regelmäßiges Training beibehalten wird, können die potentiellen großen Zuwächse dieser Zeit bis ins Erwachsenenalter andauern. Ohne regelmäßiges Training, d. h. mindestens 1-mal wöchentlich, zeigen Kinder die gleichen Enttrainings-Effekte wie Erwachsene. Aus diesem Grund würde ich für Jungen empfehlen, mit „erwachsenenähnlichem“ Krafttraining ab der Pubertät zu beginnen, abhängig vom vorpubertären Trainingsstatus. Ich wiederhole, dass das Ziel sein sollte, dass pubertäre Jungen Belastungen von 8–12 RM sicher und effektiv ausführen, indem eine gute Technik vor der Zeit trainiert wird, in der das intensive Training beginnen muss.
Ist Krafttraining schlecht für Kinder?
Viele Trainer und Eltern glauben, dass Krafttraining schlecht für Kinder und sogar potentiell gefährlich ist. Zum Beispiel existiert eine Legende, nach der das Schwergewichtheben in zu jungen Jahren das Wachstum beeinträchtigen würde. Es gibt wenig Forschung, die bestätigt, dass Gewichtstraining für junge Kinder nicht sicher wäre – vielmehr wird meistens gezeigt, dass Gewichtstraining eine der sichersten Übungen ist, die sie durchführen können. Ein Kind verletzt sich viel eher auf dem Fußballfeld, dem Tennisplatz oder der Laufbahn als im Fitnessstudio.
Weltman und seine Kollegen (1986) studierten gezielt die Effekte des schweren Krafttrainings auf kleine Jungen. Während der Trainingszeit erlitt einer der 16 Jungen eine leichte Muskelzerrung und keiner der Jungen zeigte irgendeinen Wachstumsschaden. Tatsächlich verstärkt Krafttraining bei jungen Kindern die Knochen, indem es eine erhöhte Knochenmineraldichte fördert, und wird nicht das Längenwachstum behindern. Ich wiederhole noch einmal: Das Gewichtstraining mit schweren Lasten ist sehr sicher, wenn die Technik korrekt ist und auf Haltung und Stabilität geachtet wird. Schlecht ausgeführte Gewichtsübungen sind genau so gefährlich für Kinder wie für Erwachsene.
Ein abschließender Punkt
Bei der Entscheidung, wann man mit dem Gewichtstraining beginnen und fortschreiten sollte, ist es das beste, das biologische und nicht das chronologische Alter als Richtlinie zu verwenden, ansonsten könnten bestimmte Personen zu früh oder zu spät für die optimale Entwicklung beginnen.