Aus Sicht der modernen Sportpsychologie ist es erfreulich, dass das Interesse der Öffentlichkeit an der sportpsychologischen Perspektive in den letzten Jahren wächst, und dass die Sportpsychologie in Fachkreisen immer mehr Anerkennung findet. Dennoch sind die Vorstellungen über und die Erwartungen an die sportpsychologische Arbeit oft recht uneinheitlich und manchmal auch unrealistisch.
In diesem Artikel werden dem Leser deshalb kurz und bündig einige Informationen und Beispiele gegeben, wie in dieser Hinsicht die moderne Sportpsychologie einzuschätzen ist. Wo kann es gegebenenfalls zu Missverständnissen kommen, und wo liegen ihre Grenzen?
„Team holt Psychiater!“
Vor Jahren noch konnte es passieren, dass ein Sportpsychologe, der mit der sportpsychologischen Betreuung eines Athleten oder Teams beauftragt wurde, in manchen Medien zum Beispiel mit einem „Psychiater“ gleichgesetzt wurde. Die Meinung, dass der Sportpsychologe grundsätzlich zur Behandlung psychischer Leiden im Sportkontext zuständig sei, ist mittlerweile weitestgehend überholt. Dass diese Thematik jedoch grundsätzlich wichtig und aktuell ist, zeigen gerade wieder die vermehrten Berichterstattungen der Medien über prominente Persönlichkeiten des Leistungssports, deren Gesundheit und Karriere eben auch durch den im Spitzensport herrschenden psychosozialen Druck herausgefordert und manchmal belastet werden. Sofern es bei einem Sportler um ernst zu nehmende gesundheitliche Probleme geht, ist es natürlich notwendig, dass er schnellstmöglich die erforderliche medizinische Betreuung erhält. Doch das darf natürlich nicht als Aufgaben- und Kompetenzbereich des Sportpsychologen betrachtet werden. Zum Sportpsychologen geht man – ganz vereinfacht gesprochen – nicht, um sich auf die „Couch“ zu legen, sondern um mit Hilfe wissenschaftlich begründeter Maßnahmen das eigene Erleben und Verhalten im Kontext von Sport und Bewegung konstruktiv zu unterstützen und zu optimieren.
„Grenzenlose Machbarkeit“
Wenn ein Athlet oder auch ein Trainer einen Sportpsychologen aufsucht, dann ist auf die Angemessenheit der Ansprüche zu achten. Auch wenn es stimmt, dass bei gleichwertigen Sportlern und Teams die mentale Stärke der entscheidende Faktor für den Sieg sein kann, muss jedem klar sein, dass ein vielleicht durchschnittlicher Sportler mit professionell angewendeter Sportpsychologie zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit besser werden kann, aber in der Regel sicherlich nicht zu einem Athleten wird, der auf einmal in der Weltspitze ein Wörtchen mitreden kann.
„Feuerwehrmannmentalität und Guru-Tätigkeit“
Ein großes Problem stellt es auch dar, wenn Sportler, Teams, Trainer oder auch das Management erst dann mit einem Sportpsychologen Kontakt aufnehmen, wenn das Kind eventuell schon in den Brunnen gefallen ist. Ganz akute Probleme, wie zum Beispiel der drohende Abstieg, entstehen natürlich nicht über Nacht, und lassen sich auch kaum mal eben mit ein paar „psychologischen Zaubertricks“ beheben, für die man dann vielleicht spontan einen „psychologischen Feuerwehrmann“ oder „Mental-Guru“ beauftragt. Einige mentale Kompetenzen sind zwar durchaus in relativ kurzer Zeit trainierbar, aber seriöse Sportpsychologie bedeutet immer die systematische und langfristige Aneignung mentaler/emotionaler Kompetenzen im Rahmen eines wissenschaftlich begründeten (sport-)psychologischen Trainings. Dieses zielt weniger auf kurzfristige Impulse und „Strohfeuereffekte“, sondern strebt immer nachhaltige Lern- und Trainingseffekte an.
„Mentale Stärke fällt nicht vom Himmel“
Es stimmt zwar, dass sie trainiert werden kann wie ein Muskel. Das heißt in der Regel dann aber auch, dass sie und andere (sport-)psychologischen Kompetenzen ebenso trainiert werden müssen wie beispielsweise Kondition und Technik. Es handelt sich also um einen zielorientierten, systematisch geplanten und gesteuerten Prozess, und nicht um Spontanmaßnahmen, die man beliebig oder sporadisch einsetzt. Für die optimale Entwicklung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit und Gesundheit von Sportlern und Teams ist deshalb im Grunde ein Betreuer-Team sinnvoll, das alle dafür wesentlichen Kompetenzbereiche abdecken kann. Der Bereich psychologischer/mentaler/emotionaler Fertigkeiten wird im Idealfall in die Hände eines fundiert ausgebildeten Sportpsychologen gelegt, der langfristig und regelmäßig ins Trainings- und Wettkampfgeschehen einbezogen ist.
Jörg Schönenberg