Funktionelles Training erhält in den vergangenen Jahren immer mehr Einzug in alle Sportbereiche, nicht erst seit Mark Verstegen die DFB-Elf fit machte. Aber es gibt auch immer wieder kontroverse Diskussionen. Michael Boyle beschreibt, wie er funktionelles Training definiert.
In den letzten zehn Jahren wurden vermehrt neue Ansätze gesucht, Training funktionell zu gestalten und so den Sportler vor Über- oder Fehlbelastung zu schützen. Eingeleitet wurde diese Wende, wie so oft, von Physiotherapeuten. Diesen folgten dann auch Trainer, Sportler und schließlich die Sportartikelindustrie. Ein deutliches Zeichen für die Wende war, dass viele Hersteller von Kraftgeräten begannen, neues Trainingszubehör zu produzieren, mit dem Sportler ground-based (»am Boden«) trainieren konnten. Das bedeutet, dass sich die Füße während der Übung auf dem Boden befinden und der Sportler nicht im Liegen oder Sitzen in einen starren Bewegungsablauf eingebunden ist. Außerdem kamen einfache Multipressen und Hantelbänke auf den Markt. Sportler und Trainer nahmen die Neuerungen an, und traditionelle Kraftgeräte verloren, insbesondere im Bereich des Leichtathletiktrainings, mehr und mehr an Popularität.
Funktionalität hängt vom Trainingsziel ab
Gleichzeitig entstand eine Diskussion darüber, wie funktionelles Training zu definieren ist: Die Vorreiter des funktionellen Trainings vertraten den Standpunkt, dass diese Trainingsform immer stehend zu absolvieren sei und mehrere zu trainierende Bereiche gleichzeitig ansprechen müsse. Zahlreiche Trainer dagegen, die das Konzept des Functional Training zwar eigentlich guthießen, unterstützten plötzlich Trainingsformen, die auf den ersten Blick unfunktionell wirkten. Die Anwendung solcher Trainingsformen durch vermeintliche Anhänger des funktionellen Trainings sorgte für einige Verwirrung. Dabei ist die Ursache für diesen scheinbaren Widerspruch simpel: Was als funktionell gilt, hängt vom jeweiligen Trainingsziel ab. Stabilisierende Übungen müssen anders aussehen als Übungen, die die Beweglichkeit verbessern sollen. (Lesen Sie auch: Die Grundlagen des funktionellen Trainings)
Die Hauptaufgabe vieler Muskelgruppen im menschlichen Körper ist die Stabilisation. Übungen für solche Muskelgruppen beinhalten oft relativ einfache Bewegungen mit kleiner Bewegungsamplitude, die die Muskeln kräftigen und so die Gelenke stabilisieren. Doch diese Stabilisierungsaufgaben wurden von den um Funktionalität bemühten Sportlern und Trainern häufig übersehen. Die Hauptmuskelgruppen, die stabilisierendes Training benötigen, sind:
1. Tiefe Bauchmuskulatur (Musculus transversus abdominis und Musculus obliquus internus abdominis)
2. Hüftabduktoren und Hüftrotatoren
3. Schulterblattstabilisatoren
Eine stabile Hüfte wirkt nicht nur auf das Hüftgelenk
Viele Trainer waren der Auffassung, dass Übungen für diese Bereiche in die Rehabilitation oder Verletzungsvorbeugung gehörten. Doch eine stabile Hüfte beispielsweise verbessert nicht nur die Funktion des Hüftgelenks, sondern wirkt sich ebenso positiv auf die Funktion von Knie- und Fußgelenk aus. Manche Sportler müssen zunächst die Hüftabduktoren trainieren, um so die Muskelgruppen zu aktivieren, die ihre Hüfte stabilisieren.
Der amerikanische Fitnessexperte Mark Verstegen, der das Athletes’ Performance Institute gegründet und das Trainingsprogramm Core Performance entwickelt hat, bezeichnet dieses Konzept als »Innervation durch Isolation« (isolation for innervation): Manchmal müssen bestimmte Muskelgruppen isoliert werden, wenn man ihre Funktion verbessern möchte. Hierzu gehören insbesondere die tiefe Bauchmuskulatur, die Hüftabduktoren und die Schulterblattstabilisatoren. Somit können vermeintlich nicht funktionelle, da auf einen einzigen Muskel oder eine Muskelgruppe beschränkte Übungen sich positiv auf die Funktionalität des gesamten Körpers auswirken.
Michael Boyle
Quelle
Michael Boyle: „Functional Training – Das Erfolgsprogramm der Spitzensportler“, Riva Verlag 2010