Körperspannung pur! (Teil I) Die hohe Schule der Körperbeherrschung: Die Hangwaage

0

In manchen Sportarten ist eine gute Körperspannung unverzichtbar, sonst sind gewisse Bewegungselemente fast undurchführbar. Z.B. sind Geräteturnen, Akrobatik und Ballett zu nennen, doch eben auch im Klettern ist eine gute Körperspannung notwendig für Effizienz und Bewegungsqualität.

In dieser Kolumne kehre ich wieder zum Grundlagen- und Begleittraining zurück und beschäftige mich mit Fortgeschrittenen-Übungen zur Verbesserung der Körperspannung. Das ist die willentliche Erhöhung des gesamtkörperlichen Muskeltonus, also Muskelanspannung von Kopf bis Fuß. Subjektiv vermittelt sie ein Gefühl von Kompaktheit, Stabilität, mitunter auch ein besseres Gefühl für Raum und Lage (Kinästhetik).

 

Stocksteif sein ist (manchmal) ausgezeichnet!

Wenn man einem völligen Laien Körperspannung vermitteln will, bietet sich folgende „Versuchsan-ordnung“ an. Man lasse einen Stock aus halben Meter Höhe senkrecht auf einen leicht elastischen oder harten Boden fallen, dieser hüpft im Rückprall wieder hoch. Selbiges ist mit einem schlaffen Seil nicht möglich.

Bei Sprüngen und anderen Übungen versucht man den Stock zu imitieren, indem man sich so fest wie möglich macht. Die „Muskel-(Vor)Spannung“ (Muscle-Stiffness) in der Sprungmuskulatur minimiert Energieverluste durch Deformierung.

 

Und was bringt mir das als Kletterer?

Auch am Fels kann es „Sprünge“ oder sprungähnliche Züge geben, wo man schnell, explosiv und re-aktiv von einem Griff zum nächsten fasst (geübt wird das mit dynamischen Zügen, sog. „Dynamos“, am Campusboard). Auch hier spielt für die optimale Körperkontrolle und Ausnutzung der neuro-muskulären (Reflex-)Mechanismen die Körperspannung eine wichtige Rolle.

 

Nur nicht schlapp machen!

Den ganzen Körper unter Spannung halten, als geschlossene Einheit zu funktionieren, verhindert Lü-cken im Kraftschluss oder „Energielecks“. Es verbessert das Zusammenspiel der Körperteile und die Kraftübertragung von einem Körperteil auf den anderen, beim Klettern zum Beispiel bei Körperwel-len, die von der Hüfte eingeleitet zu einer Art „totem Punkt“ führen („deadpointing“), einer kurzen Entlastung, in der man den Griff wechseln kann. In überhängenden Routen oder Boulderproblemen und speziell in „Dächern“ also in horizontalem Klettergelände ist die Körperspannung oft sogar ein primärer Leistungsfaktor. Denn hier kann es absolut entscheidend sein, einen weit entfernten Tritt doch noch zu erreichen oder das z. B. durch einen technischen Fehler verursachte Lösen des Schuhs von einem Tritt so rasch wie möglich wieder zu korrigieren bzw. den Fuß neu zu positionieren. Genau dabei hilft Ihnen die im Folgenden beschriebene Übung, die „Hangwaage“. Doch ein wichtiger Warn-hinweis vor ab:

 

Der Wechsel von Spannung/Entspannung macht’s!

„Körperspannung halten“ heißt aber nicht, auf Teufel komm raus alles zusammenpressen. Nicht übers Ziel hinausschießen! Es gilt, das für die Erreichung des Endziels optimale Maß zu finden. Will heißen: Nicht Verkrampfung mit Körperspannung verwechseln! Verkrampfung entsteht aus Nervosität, Ängst-lichkeit, Ärgerlichkeit, Energieverlust, Überpowern, schlechter Technik, sich zu sehr auf Kraft verlas-sen. Verkrampfung kostet, richtige Körperspannung spart Energie! Wer gut klettern will, weiß, wann er Spannung und Entspannung (an Rastpositionen) strategisch gezielt einsetzt.

 

Körperspannung bedeutet auch, das Körpergefühl zu schulen

Ein gutes Körpergefühl kann man aus dem Kontrast von Spannung/Entspannung entwickeln, wofür sich neben allgemein-gymnastischen Übungen auch die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson anbietet, ein Mentaltraining, bei dem man die Muskelpartien bewusst an- und entspannt. Diese Anfän-gerstufe überspringe ich an dieser Stelle und komme gleich zum Eingemachten.

 

Eine Topübung aus dem Kunstturnen: Hangwaage vorlings

Wie vorhin erwähnt: Fürs Klettern in steilen Überhängen und Dächern ist die Hangwaage vorlings eine bewährte Unterstützungsübung.

Ich schlage folgende Übungsprogression vor (nach dem US-Turn-Coach Christopher Sommer)

1. Im Obergriff eine Stange fassen (oder Ringe oder Griffleisten für Fortgeschrittene). Körper angehockt hochziehen, bis der gerundete Rücken zum Boden zeigt. Hockposition halten!

2. Selbe Position, nur wird der Rücken gerade gehalten.

3. Ein Bein anhocken, das andere ausstrecken. (s. Bild oben) 

Hangwaage: Körperspannung pur

4. Könner: Beide Beine ausstrecken! Varianten: Von oben, aus dem Sturzhang, in die Endposition oder von unten Körper hochziehen.

5. Elite: Zusatzgewicht (Gewichtsweste, Fußmanschetten, Gewichtsgürtel).

6. John-Gill-Stufe (jenseits von Gut und Böse): einarmig! Ein eindrucksvolles Foto dieses Pioniers des Klettersports, der seine eigene Laufbahn zuerst als Turner begann, finden Sie unter folgendem Direktlink  

 

Zusatzinfos:

– Atmung: langsam ausatmen mit Erhöhung der Spannung. Pressatmung ist hier kurz erlaubt bzw. unvermeidlich, falls die Spannung für das Einatmen zu groß ist. Ansonsten flach ein- und ausatmen.

– Position so lange wie möglich halten. 5 maximale Versuche (3-5 Min Pause), 1-bis 2-mal pro Woche (je nach individueller Belastbarkeit ins Klettertraining integriert, oder an separaten Krafttrainings-Tagen absolviert).

– Wechsel zur nächsthöheren Stufe, wenn man die jeweilige Vorstufe mind. 5-10 Sek halten kann.

– Sekundenzählung durch Partner oder Metronom/Sportuhr mit akustischem Signal

 

Aussichten

Im zweiten Teil dieser dreiteiligen Körperspannungs-Kolumne stelle ich Ihnen bereits in der nächsten Folge einige weitere funktionelle Übungen für „Hardcore-Spannung“ vor: Bauchaufzug, Spannungssitz, „Superman“, „Drachenfahne“ und die „Windfahne“ folgen! Bleiben Sie dran auf www.trainingsworld.com/sportarten/klettern

 

Ihr Jürgen Reis (mit Nikolai Janatsch)

Teilen

Über den Autor

Reis Mit Nikolai Janatsch Jürgen

Leave A Reply