Dehnen: Pro und Contra in der Diskussion

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Die Diskussion um das Dehnen im Aufwärmen aber auch als Verletzungsprophylaxe bricht nicht ab. In diesem Beitrag soll der aktuelle Stand der Diskussion noch einmal neu aufgerollt werden.

Kaum ein Thema im Sport wird in den letzten Jahren so emotional diskutiert wie die Frage nach dem Dehnen. Dabei werden Dehnmethoden ebenso hinterfragt, wie der Einsatzzweck des Dehnens. Kann Dehnen die Beweglichkeit verbessern? Schützt Dehnen vor Verletzungen? Leider wird dieses Thema oftmals an den wissenschaftlichen Grundlagen vorbei auf populärwissenschaftlicher Ebene diskutiert und wichtige Aspekte werden vernachlässigt. Wie so oft liegt die Wahrheit in der Mitte.

Lange Zeit wurde das Dehnen recht unkritisch angenommen und in das regelmäßige Training integriert. Die Basis waren damals Annahmen und Beobachtungen aus der Sportpraxis bzw. aus der Physiotherapie. Dabei wurde zunächst das dynamische Dehnen, in Form von wippenden Bewegungen, dem „Stretching“ vorgezogen, während in den späten 1980ern eine Gegenbewegung überhand nahm. Das dynamische Dehnen war fortan verpönt und wurde durch statisches Dehnen ersetzt. In den letzten Jahren waren zunehmend Stimmen zu hören, die meinten, dass das Dehnen insgesamt überholt und überflüssig sei.

 

Optimales Aufwärmen durch Dehnen?

Dass Aufwärmen vor dem Trainingsbeginn oder vor einem Wettkampf empfehlenswert ist, kann als unstrittig angesehen werden. Das Aufwärmen muss dabei auf die jeweilige Sportart ausgerichtet sein und neben der allgemeinen auch eine spezielle Vorbereitung enthalten. Ziel ist, so das Verletzungsrisiko zu minimieren und die Leistungsfähigkeit zu verbessern. Dem Dehnen werden genau diese Wirkungen nachgesagt, weshalb im Aufwärmtraining Stretching- und Dehnübungen weit verbreitet sind und sportartübergreifend angewendet werden. Allerdings ist die wissenschaftliche Basis der praktischen Anwendung keineswegs eindeutig und die Beurteilung der möglichen Effekte durchaus stark unterschiedlich.

Die weite Verbreitung des Dehnens und Stretchings basiert im Kern auf sportpraktischen Empfehlungen.

 

Was soll Dehnen bewirken?

Mit dem Begriff Stretching wird im deutschen Sprachraum eine Dehnmethode definiert, bei der die Position langsam eingenommen wird und über einen bestimmten Zeitraum gehalten wird. Über die Dauer, die eine solche Position gehalten werden soll, herrscht jedoch Uneinigkeit und die Angaben schwanken zwischen 5 und 60 Sekunden.(1)

 

Verletzungsprohylaxe durch Dehnen?

Dehnen im Sport wird oftmals mit der möglichen Verletzungsprophylaxe begründet. Möglicherweise haben Sie aber auch schon mal gehört, dass Dehnen doch nicht vor Verletzungen schützen soll. Für beide Positionen lassen sich Hinweise in der Literatur finden, wobei in der öffentlichen Diskussion oftmals Studien nur selektiv herangezogen werden. Daraus folgen plakative Diskussionen in eine bestimmte Richtung, wobei Gegner und Befürworter eines Dehntrainings selten ausgewogen auf die Argumente blicken. Der einzige Fakt in diesem Kontext ist deshalb, dass die verletzungsprophylaktische Wirkung des Stretchings kontrovers diskutiert wird. So wurden zwischen 2002 und 2004 insgesamt 4 große Metaanalysen erstellt, in denen bereits vorliegende Studien zum Thema Dehnen zusammenfassend untersucht wurden. Metaanalysen greifen dazu auf verschiedene Studien zurück und versuchen die Effekte zusammenzufassen.(2) In diesen genannten Übersichtsarbeiten kamen die Autoren zu dem Schluss, dass dem Dehnungstraining keine bzw. nur eine geringe Wirkung auf die Verletzungsprophylaxe zugeschrieben werden kann.

 

Schützt Dehnen wirklich nicht vor Verletzungen?

Wenn Sie das Wort Verletzungsprophylaxe lesen, bringen Sie dies sicher zunächst einmal mit muskulären Verletzungen in Verbindung. Letztendlich sind Zerrungen der Muskulatur und Muskelfaserrisse Verletzungen, denen zugeschrieben werden kann, dass sie sich durch ein Dehnen verhindern ließen, wenn es denn wirken würde. Bei den 12 Studien, die den 4 Metaanalysen zugrunde lagen, wurden jedoch auch andere akute Verletzungen und Überlastungsschäden erfasst. Diese sind wohl eher nicht durch Dehnübungen vermeidbar, so dass sie im Rahmen der Studien eigentlich nicht zu berücksichtigen gewesen währen. Da bei der Schlussfolgerung der Ergebnisse die Verletzungen nicht differenziert betrachtet wurden, fehlen wichtige Informationen. Die Primärstudien hätten die Verletzungsarten differenziert betrachten müssen. In 3 der 12 Untersuchungen wurden Muskelzerrungen und Muskelfaserrisse gar nicht erfasst. In 4 weiteren der Studien wurden Muskelverletzungen und andere Verletzungsarten nicht getrennt genannt. In 4 Untersuchungen wurden die Verletzungsarten zwar getrennt erhoben, jedoch nicht getrennt ausgewertet.

 

Sind Verletzungen überhaupt vermeidbar?

Sehr häufig wird die Metaanalyse von Herbert & Gabriel zitiert, die jedoch nur auf 2 Untersuchungen basierte.(3) Dabei wurden in einer der Studien gar keine Muskelzerrungen erhoben. In der anderen ausgewerteten Studie machte diese Verletzung nur 10,5 % am gesamten Verletzungsgeschehen aus.(2) Andere berücksichtigte Verletzungen waren:

– Verstauchungen des Fußgelenks

– Meniskusverletzungen

– Ermüdungsbrüche des Wadenbeins

– das vordere Muskellogensyndrom

– Knochenhaut- und Sehnenentzündungen

– Verletzungen der Gelenke

 

Diese Probleme sind grundsätzlich nicht von der Frage abhängig, ob gedehnt wurde oder nicht. Die letztgenannte Studie bestand aus einer Untersuchung von Rekruten, bei der die Soldaten vor Märschen dehnten oder nicht. Dabei wurden in der gedehnten Gruppe weniger Zerrungen erhoben, diese jedoch statistisch nicht ausgewertet, da lediglich die gesamte Verletzungsgefahr analysiert wurde. Bezogen auf die muskuläre Ebene können Effekte aber zumindest vermutet werden, sodass das Ablehnen der verletzungsreduzierenden Wirkung des Dehnens nicht zulässig ist.

 

Dehnen kann die Balancefähigkeit verbessern

In einer aktuellen Studie wurden die Effekte eines Dehntrainings auf die posturale Balancefähigkeit hin untersucht. Dabei wurde vor einer Balanceübung ein statisches Dehnen durchgeführt.(4) Dabei führten 10 Surfer und 42 Studenten eine Gewöhnung an einen Balancetest durch. Im Rahmen der Studie wurden entweder 30 Minuten sitzen vor der Testübung absolviert oder ein 30-minütiges statisches Dehntraining. Bei den untrainierten Studenten verbesserte sich die Balancefähigkeit im Anschluss an ein Dehnen signifikant um 11,4 %, während die Surfer, denen Balancetraining im Rahmen des Surfens geläufig ist, sich nicht verbesserten.(4) Der Effekt bei den Studenten ist wohl auf das Eliminieren von groben Kontraktionen der Muskeln zurückzuführen, so dass die Stabilität verbessert werden kann. Je nach Einsatzzweck und Zielgruppe scheinen sich die Wirkungen somit schon einmal zu unterscheiden.(4)

 

Dehnen und die molekulare Betrachtung

Während die frühen Aussagen über das Dehnen fast ausschließlich auf Annahmen und zum Teil auf praktischen Erfahrungen basierten ergaben sich in den letzten Jahren zunehmend neue Erkenntnisse aus Arbeiten der Molekularbiologie, bei der die Strukturen der Muskulatur genauer untersucht wurden. So kommt beispielsweise der Entdeckung des Titins eine große Bedeutung zu, da es quasi als „molekulare Feder“ im Muskel für die Ruhespannung verantwortlich ist. Es sorgt als Verbindungsstück dafür, dass die Muskulatur auch in Ruhe eine bestimmte Spannung aufrecht erhält. Diese Effekte wurden zuvor dem Bindegewebe, das sich um die Muskelstrukturen herum befindet, zugeschrieben. Es ist zu hoffen, dass zukünftige Forschungsansätze auf molekularer Ebene helfen, unklare Fragen zu beantworten. Dass die Frage des wissenschaftlichen Ansatzes von Bedeutung ist, möchten wir Ihnen in den späteren Abschnitten anhand der Wirkung des Dehnens auf die Verletzungsprophylaxe zeigen.

 

Was bedeutet das für Ihre Sportpraxis?

Wie so oft bringt das wissenschaftliche Auseinandersetzen mit einem Thema nicht unbedingt eindeutige Antworten. Das gilt auch für das Dehnen. Klar scheint nur zu sein, dass sowohl das Verteufeln als auch das uneingeschränkte Loben des Dehntrainings unangebracht sind. Derzeit sind vor allem die mikrobiologischen Untersuchungen von großer Bedeutung, da neue Erkenntnisse zur Muskelstruktur und zu den Mustern der Anpassungen auch neue Informationen zur Wirkung der verschiedenen Trainingsmethoden versprechen. Nach aktuellem Stand könnte es sein, dass Dehnübungen kurzfristige positive Auswirkungen auf Muskelverletzungen haben, wobei unklar ist, wie lange ein solcher Effekt anhält. Ob das Dehnen auch nach 20–30 Minuten sportlicher Belastung noch wirken kann, ist ebenso unklar wie die Frage, ob die negativen Effekte des Dehnens wie das Herabsetzen der Schnellkraftleistung oder der Sprungleistung überdauernd sind oder abklingen. Sie sollten daher auch auf Ihr Körpergefühl hören. Wenn Ihnen Dehnen gut tut, gibt es nur wenige Gründe, die dagegen sprechen, es auch in Ihr Training einzubauen.

 

Tipps für Ihr Training

– Statisches Stretching schadet Ihnen nicht.

– Mit Dehnen lassen sich möglicherweise Muskelverletzungen vermeiden.

– Dehnen sollte nur ein Teil Ihres Aufwärmprogramms sein.

– Dynamische Übungen, Sprünge und Prehab-Übungen sollten Ihr Aufwärmprogramm ergänzen.

 

Dennis Sandig

 

Lesen Sie auch: Dynamisches Warm-Up – Ausfallschritt mit Oberkörperrotation 

 

Literaturangaben:

1. Leistungssport, 2005, Bd. 35, (2), S. 20–23.

2. Sportwissenschaft, 2006, Bd. 36, (1), S. 23–39.

3. British Medical Journal,2010 Bd. 325, S. 1–5.

4. Journal of Strength and Conditioning Research, 2011, Bd. 29 (epub ahead of print).

Fachsprache

Titin – elastisches Protein in der Muskelstruktur, das für die Spannung und die Elastizität des Muskels verantwortlich ist; es ist nicht an der Muskelkontraktion beteiligt

Bindegewebe – faserartiges, festes Körpergewebe mit stützender und festigender Funktion

Metaanalyse – Studien, die mehrere Einzelstudien zusammenfassen

Meniskus – scheibenförmiger Knorpel im Knie

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Über den Autor

Dennis Sandig

Dennis Sandig arbeitete als Sportwissenschaftler am Institut für Sportwissenschaften der Julius-Maximilians Universität in Würzburg. Aktuell ist er bei der Deutschen Triathlon Union als Wissenschaftskoordinator und Referent für Bildung zuständig, sowie für das umfassende Aus- und Fortbildungsprogramm für Coaches im Triathlon.

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