Das Aufwärmen vor einem Training oder vor einem Wettkampf ist nicht wegzudenken. Dabei steht neben der Verletzungsprophylaxe die Leistungssteigerung im Vordergrund, in dem der Sportler seine Muskulatur auf die Beanspruchung vorbereitet. Dass Aufwärmen grundsätzlich positiv auf die Leistungsfähigkeit wirken kann, gilt als gesichert. Welche Inhalte sich hierfür jedoch anbieten ist keineswegs klar. Wir wollen Ihnen heute den Stellenwert des Dehnens im Sport zur Vorbereitung von Höchstleistungen vorstellen. Dabei soll auch der Widerspruch der aktuellen Forschungslage und der Anwendungen in der Praxis diskutiert werden.
Dehnend und Stretching während des Aufwärmens
Das statische Dehnen oder Stretching spielt in der Sportpraxis beim Aufwärmen nach wie vor eine sehr große Rolle. Gerade vor einem Wettkampf wird damit neben der möglichen Verletzungsprophylaxe das Vorbereiten der Muskulatur auf die Höchstleistung verbunden.
Das Ziel des Stretchings: die Vorbereitung
Die Schnellkraft und maximale Bewegungsgeschwindigkeiten sind in sehr vielen Sportarten und Disziplinen entscheidend. Neben der Leichtathletik sind auch in Ballsportarten vom Volleyball bis zum Basketball Sprints und Sprünge oder Würfe leistungsrelevant. Ein Antritt oder ein schneller Sprint kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Um eine optimale Leistung bringen zu können, steht das richtige Aufwärmen im Vordergrund der Betrachtungen. Durch die vorbereitenden Übungen erhöhen Sie Ihre Muskeltemperatur und Ihre Körperkerntemperatur, so dass Sie Ihre motorische Leistungsfähigkeit optimieren. Hinzu kommen Vorbereitungen auf koordinativer Ebene, so dass Ihre technischen Fertigkeiten vorbereitet werden. Anhand dieser Aufzählung sehen Sie, dass sich eine Vielzahl von verschiedenen Funktionen im Aufwärmprogramm wiederfinden muss.
Dehnen während dem Aufwärmen in der Sportpraxis
Gemeinhin ist zu beobachten, dass die sportartspezifischen Belastungen mit niedriger Intensität die Basis des Aufwärmens bilden. Lockeres Laufen ist die Grundlage schlechthin und die Intensität wird langsam gesteigert. Des Weiteren sind Dehnübungen und Stretching weit verbreitet, wobei in der Regel statisches Dehnen zu beobachten ist, bei dem der Sportler eine Dehnposition langsam einnimmt und 5–30 Sekunden hält.(1)
In der Trainingsliteratur, die sich eng an die Sportpraxis knüpft, sind auch immer noch Aussagen zu finden, wonach Stretching die Leistungsfähigkeit erhöhen kann. Dehnen soll also die Leistungsfähigkeit vor einem Wettkampf steigern und wird deshalb routinemäßig in der Sportpraxis angewendet. Ihnen werden dazu sicher Beispiele einfallen. Sie als Sportler oder Trainer interessiert dabei natürlich die Frage, ob Dehnen wirklich die angenommenen Wirkungen hat. Führt Dehnen zu einer Leistungsverbesserung, wenn es im Aufwärmen durchgeführt wird?
Die Wirkungen des Dehnens auf die Leistungsfähigkeit
Den Auswirkungen des Dehnens auf die Leistungsfähigkeit wurde in einer Vielzahl von Untersuchungen nachgegangen. In einer ganzen Reihe von Studien zeigten sich negative Effekte in Bezug auf nachfolgende Kraftleistungen.(2) Eine starke Reduktion der Leistungsfähigkeit wurde auch bei schnellkräftigen reaktiven Leistungen wie bei Sprints und Sprüngen festgestellt. Diese Effekte werden mit 3 möglichen Ursachen erklärt:
- Psychophysische Prozesse wie die Desaktivierung
- Veränderungen auf neuromuskulärer Ebene
- Veränderungen der biomechanischen Eigenschaften des Muskels
Auf der biomechanischen Ebene wird davon ausgegangen, dass eine Veränderung des Kraft- Längenverhältnisses der Muskulatur Ursache für die Leistungsreduktion sein kann. Leistungseinbußen bei reaktiven Anforderungen, wie z. B. bei Tiefsprüngen, werden mit einer verringerten neuronalen Aktivität erklärt.(3)
Messungen der elektrischen Muskelsignale (EMG) belegten diese Vermutung. Diese Effekte hielten auch 30 Minuten nach einer Dehnung noch an. Im Anschluss an eine Dehnung und bis zu eine halbe Stunde lang konnte eine um bis zu 20 % verringerte Erregbarkeit des Motoneuronenpools nachgewiesen werden. Weitere Studien belegten diese Effekte.(4)
In anderen vergleichenden Studien zeigte sich der negative Effekt des statischen Dehnens ebenfalls, wobei dynamische, federnde Dehnübungen nicht zu Leistungseinbußen führten. Ähnliche Effekte wie ein statisches Dehnen scheinen auch Entspannungsübungen zu haben, so dass die psychische Wirkung des Dehnens ebenso als Erklärungsmuster dienen kann.
Können die hemmenden Effekte aufgehoben werden?
Aufgrund der Tatsache, dass die leistungsreduzierende Wirkung auch noch 30 Minuten nach einem Dehnen auftrat, lässt vermuten, dass diese Ergebnisse für die Sportpraxis von großer Bedeutung sind. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht aktivierende Maßnahmen wie maximale Sprints oder kurze Krafteinsätze die negativen Effekte wieder aufheben können. In einer Studie wurde dieser Fragestellung nachgegangen und nach einer Dehnung ein Sprint oder Sprünge durchgeführt.(5)
Auch hier zeigte sich die negative Wirkung des reinen Dehnens auf die Leistungsfähigkeit. Wurden nach dem Dehnen jedoch Sprints durchgeführt, konnten die negativen Effekte wieder aufgehoben werden. Eine andere Gruppe, die nach dem Dehnen Prellsprünge durchführte, konnte dies nicht erreichen und blieb unter dem Ausgangsniveau vor dem Dehnen.
Möglicherweise könnte eine Erhöhung der Intensität im Vergleich zu der in der Studie jedoch ähnlich wirken wie die Sprints. Maximale statische Kontraktionen führten ebenso wenig wie die Sprünge zu einer Reduktion der negativen Effekte des Dehnens.
Gestalten Sie Ihr Aufwärmen abwechslungsreich
Wenn Sie mit einem Aufwärmprogramm schnellkräftige Belastungen vorbereiten möchten und gleichzeitig ein Dehntraining durchführen wollen, sollten Sie unbedingt aktivierende Trainingsinhalte einbauen. Kurze und maximale Sprints sind eine gute Möglichkeit, den negativen Effekten des Dehntrainings entgegen zu wirken und zeitgleich die kommenden Belastungen bestmöglich vorzubereiten.
Allerdings muss berücksichtigt werden, dass in der genannten Studie das Sprinttraining zwar die negativen Effekte des Dehnens aufheben konnte, aber nicht untersucht wurde, ob ein Aufwärmen ohne Dehnen nicht sogar noch eine stärkere Leistungssteigerung hätte zur Folge haben können. Diese Frage ist aber für Leistungen, die von der maximalen Leistungsfähigkeit beeinflusst werden, von sehr großer Bedeutung.
Weniger bedeutend ist dies jedoch für die Spielsportarten. Hier ist die Feststellung ausreichend, dass maximale Sprints die Leistungsfähigkeit nach der dehnungsbedingten Leistungsreduktion wieder herstellen können und somit keine Einbußen zu befürchten sind, gleichzeitig aber muskuläre Verletzungen unter Umständen vermieden werden könnten.
Dehnen im Aufwärmen: Viele Fragen bleiben offen
Während Sie nun einige Informationen aus Studien zu den Wirkungen und möglichen Effekten des Dehnens erhalten haben, erkennen Sie auch, dass bislang nur sehr wenige Informationen zum Thema Dehnen und Stretching vorliegen. Insbesondere die wichtigen Informationen zu den Grundlagen eines solchen Trainings fehlen komplett. Weder zu den Trainingsumfängen noch zur Häufi gkeit oder gar zur Intensität können wir Empfehlungen aussprechen, die über praktische Erfahrungswerte hinausreichen.
Während im Beweglichkeitstraining von Turnern oder Eiskunstläufern große Anteile Dehnungstraining eine Grundlage sein müssen, sind zu den Umfängen im Aufwärmen keine Aussagen möglich. Wünschenswert ist, dass die Bewertung des Dehnens sich stärker auf die aktuelle Studienlage bezieht und dabei die vorhandenen Defizite im Wissen berücksichtigt. Weder das grundlegende Ablehnen des Dehnens noch das unumstößliche beharren auf dieser Trainingsform ist zu befürworten.
Ein dosierter Einsatz je nach individueller Fragestellung und das Abwägen von Vor- und Nachteilen muss vielmehr die Basis für einen intelligenten Einsatz dieser Trainingsform bilden. Hören Sie auf Ihren Körper und versuchen Sie sich gegen Verallgemeinerungen zu wehren.
Trainingstipps
- Dehnen Sie sich nicht zu umfangreich vor schnellkräftigen Belastungen.
- Stretching zur Beweglichkeitssteigerung kann eine eigenständige Trainingseinheit sein.
- Wenn Sie beim Aufwärmen dehnen, sollten Sie maximale Sprints einbauen, um der Leistungsreduktion entgegenzuwirken.
Quellenangaben
- Leistungssport, 2005. Bd. 35 (2), S. 20–23
- Spectrum der Sportwissenschaften, 2002, Bd. 14 (1), S. 53–80
- Güllich, A., & Schmidtbleicher, D. (2000), Methodik des Krafttrainings. Struktur der Kraftfähigkeiten und ihre Trainingsmethoden. In M. SIEWERS, (Hrsg.), Muskelkrafttraining, Band 1: Ausgewählte Themen. Kiel: Eigenverlag, S. 17–714
- Journal of Sport Science, 1995, Bd. 13, S . 481–490
- Sportwissenschaft, 2006, Bd. 36 (3), S. 306–320
Fachsprache
- EMG – Elektromyographie – ist die Messung der elektrischen Aktivität des Muskels
- Motoneuronen – Nervenzellen, die die Muskulatur des Körpers aktivieren