Im folgenden Artikel ein Interview mit dem Deutschen Trainer Leo Held, der während vieler Jahre in der Schweizer Judowelt für große Veränderungen und Erfolge sorgte. Im Gespräch äußert er sich über die Inspiration und Aufgaben eines Trainers und blickt kritisch auf seine Trainerkarriere zurück.
Leo Held war während 12 Jahren Technischer Direktor und Nationalcoach des Schweizerischen Judoverbands. 2008 wurde er zum Abschluss seiner Trainerkarriere mit der Auszeichnung „Trainer des Jahres“ ausgezeichnet. Unvergessen bleibt der langersehnte und verdiente Gewinn der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 2008 von Sergei Aschwanden. Unter seiner Leitung konnten Schweizer Athleten einige große Erfolge feiern, wie zum Beispiel 1997 die bisher erste und einzige Weltmeisterschaftmedaille einer Schweizerin durch Monika Kurath. Inzwischen arbeitet der gebürtige Deutsche für die Trainerbildung von Swiss Olympic, aber auch als Supervisor und Coach von Führungskräften und begleitet einige interessante Projekte von Swiss Olympic.
1. Warum bist du Trainer? Was treibt dich an? Was oder wer inspiriert oder hat dich als Trainer inspiriert?
Ich wollte immer ein Trainer sein, den ich selber gerne gehabt oder gebraucht hätte. Ich selbst bin spät zum Judo gekommen und in Köln waren meistens mehr als 100 Athleten auf der Matte, die alle von zwei, drei Trainern betreut waren. Diese Trainer haben sich natürlich damals vor allem um die Topathleten gekümmert. Ich hätte damals jemanden gebraucht, der mich beim Training, auch beim Randori beobachtet und mir eine konstruktive Rückmeldung gibt. Vor allem aber hätte ich im technischen und mentalen Bereich Hilfe gebraucht.
Was mich inspirierte oder als Trainer heute noch voran treibt, ist bildlich gesehen mit dem Fahren eines Ferraris vergleichbar. Was kann ich aus der Maschine bzw. einem Athleten herausholen? Für mich ist es ein Erfolg, wenn ich aus jemandem etwas herausholen konnte, was er sich selber gar nicht zugetraut hätte. Daher steht für mich primär die Entwicklung im Vordergrund und der Erfolg ist letztendlich die Folge davon, bzw. die Leistung am Tag X.
2. Wie gehst du als Trainer mit der „Gratwanderung zu viel oder zu wenig“ um? Wie gehst du dieses Problem an? (Intensität wie Umfänge)
Hierbei erinnere ich mich gerne an eine Aussage eines Ernährungsspezialisten, mit dem wir viel zusammenarbeitet haben. Er hat immer den Menschen im Vordergrund gesehen. Er meinte: „Leo, ihr geht ja gar nicht an eure Grenzen, ihr geht ja oft über eure Grenze hinaus.“
Aus diesem Grund ist das soziale Umfeld sowie Schlaf, Ernährung usw. eines Athleten enorm wichtig. Die Athleten müssen nachhaltig Hoch‐ und Extrembelastungen verarbeiten können.
Als Instrument habe ich das Monitoring benutzt, also ein Trainingstagebuch. Die Eindrücke des Athleten mit der Sichtweise des Trainers zu vergleichen, das ist aus meiner Sicht ein wichtiges Instrument. Das setzt natürlich eine Planung und viel Reflexion eines Trainers voraus. Tests sind auch wichtig, doch sie sind nur eine Momentaufnahme. Es wäre verantwortungslos, anhand einer Momentaufnahme eine Planung über einen bestimmten Zeitraum herzustellen. Das Monitoring hat mir als Trainer am meisten geholfen, den richtigen Weg zu gehen, bzw. die richtige Balance zu finden.
3. Gibt es im Judo geschlechterspezifische Unterschiede, wenn es um Trainingsplanung, die verschiedenen Trainingsbereiche und die Kommunikation geht? Wenn ja, welche, aus deiner Sicht?
Ich habe in meiner Trainerkarriere extrem positive Erfahrungen mit Frauen und schwarzen Athleten gemacht. Ich hatte den Eindruck, dass sie bindungsfähiger und emotionaler sind. Im Leistungsport ist es einfach notwendig, in die Tiefe zu gehen, Probleme anzusprechen. Natürlich immer mit dem Ziel, sich weiterentwickeln und weiterkommen zu wollen. Frauen habe ich einfach als sozialer erlebt und wenn die Beziehung zwischen Athlet und Trainer einmal stimmt, also ein Vertrauen da ist, dann habe ich Frauen und auch eben Athleten mit afrikanischen Wurzeln so erlebt, dass sie durch dick und dünn gehen und alles geben.
Ich habe auch oft Athleten erlebt, die immer eine Rolle spielen und diese Rolle hat sie eigentlich von einer zielgerichteten Entwicklung abgehalten. Auch das Denken einiger Sportler, dass z. B. der Erfolg nur etwas wert ist, wenn er es ganz alleine schafft, also nur auf seine Art und Weise, steht einer positiven Entwicklung oft im Weg.
Desweiteren erachte ich die Kommunikation sowie die Metakommunikation, aber auch eine klare und transparente Führung als wichtige Faktoren eines erfolgreichen Trainingsprozesses, egal ob mit Frauen oder Männern, sie sind die Basis. In diesem Bereich habe ich im Laufe der Zeit viel dazugelernt.
4. Wie siehst du den pädagogischen Auftrag eines Trainers im Leistungssportbereich? Vertrittst du als Trainer gewisse Werte? Sollen Trainer gewisse Werte vermitteln? Wenn ja, welche? Wenn ja, welche Werte findest du besonders wichtig?
Ich finde den pädagogischen Auftrag eines Trainers enorm wichtig. Vor allem in Ländern, die sehr demokratisch sind, wie ich das in der Schweiz erlebt habe, also in Ländern ohne große Spitzensportkultur. Dieses Spitzensportumfeld fehlt einfach hier in der Schweiz. Ich habe als Trainer den Auftrag, den Athleten aufzuzeigen, was es eben braucht, um im Spitzensport erfolgreich zu werden. Ich muss die Sportler eigentlich zu Athleten erziehen.
Im Auftrag von Swiss Olympic darf ich das Olympic‐Coach‐Programm London, Sochi und Rio de Janeiro leiten, in welchem sich Trainer und Coachs austauschen und voneinander lernen können. In der Schweiz hat der Trainer einen niedrigen Stellenwert und es fehlt oft an sozialer Absicherung und kollegialer Vernetzung, umso wichtiger ist dann eine solche Plattform. Eine tolle Sache, hätte ich früher auch gebraucht.
Da in der Schweiz jedoch junge Athleten vor allem auch von erfahrenen älteren Athleten lernen und dies im positiven wie negativen Sinne, habe ich Swiss Olympic den Vorschlag gemacht, dass wir in der Schweiz auch ein Athlet‐to‐Athlet‐Programm starten sollten. Dass zum Beispiel ein Roger Federer oder eine Nicola Spirig den jungen Athleten aufzeigen können, was es eben braucht, um an die Spitze zu gelangen.
5. Im trainingswissenschaftlichen Bereich gibt es immer wieder Innovationen, erneute Hilfestellungen und Möglichkeiten. Inwiefern nimmst du als Judotrainer diese in Anspruch? Passt du bisherige Trainingsmethoden und –inhalte immer wieder an? Wenn ja, welche und warum?
Ich bin als Coach oder Trainer eigentlich der Experte des Nichtwissens. Ich habe mir, als ich Trainer war, um mich herum einen Staff aufgebaut. Ich denke da an die Bereiche Ernährung, Sportpsychologie, Sportmedizin, Physiotherapie oder ganz spezifische Themen wie Krafttraining oder auch Höhentraining. Ich habe mich immer mit Spezialisten des jeweiligen Bereichs ausgetauscht. Die Athleten vertrauen mir als Trainer und ich darf mir als Trainer durch Borniertheit oder falschem Stolz nicht im Weg stehen. Ich habe den Auftrag, die Athleten weiterzubringen, alles dafür zu tun, um sie weiterzuentwickeln, und dazu hat man Hilfe nötig. Und in dem Coach‐Programm, das ich im Moment leiten darf, geht es genau darum. Was können Trainer voneinander lernen, sozusagen von Experte zu Experte.
Aber natürlich läuft die Kommunikation danach über den Trainer. Die Schnittstelle zum Athleten ist der Trainer. Die Zelle Trainer‐Athlet soll geschützt bleiben, aber hierzu ist auch Offenheit und Reflektion eines Trainers die Basis.
6. Welches ist die wichtigste Einsicht aus deiner bisherigen Trainerkarriere?
Ich bin im Laufe der Zeit vom Sager zum Frager geworden. Ich habe zu Beginn meiner Karriere gedacht, ich bin der Messias, mit meinem Wissen, meinem Studium, meinem Hintergrund, meiner Erfahrung. Mit dieser Einstellung bin ich damals in die Schweiz gekommen.
Ich musste jedoch sehr schnell lernen, dass die Lösung in den Leuten selbst steckt. Diese Haltung wurde in meiner Ausbildung zum Supervisor und Coach am Institut für Angewandte Psychologie in Zürich noch verstärkt. Durch die richtigen Fragen und auch durch Zuhören kann ich die Menschen dazu bringen, dass sie selber auf die Lösungen kommen. Die Athleten sollten also mehr involviert werden, mehr in die Verantwortung genommen werden, sodass sie auch hinter dem stehen können, was dann gemacht wird.
Und an dieser Stelle komme ich nun zu einem ganz wichtigen Punkt eines Trainers – die Reflexion. Um zu reflektieren, hat man Hilfe von Außen nötig. Man braucht jemanden, der einem vielleicht während dem Training beobachtet und einem auch die richtigen Fragen stellt. „Warum hast du das auf diese Art und Weise gemacht?“ „Welche Überlegung steckte hinter dieser Übung?“, usw., um so seine „blinden Flecken“ , seine Schwächen, aber auch sein Potential aufdecken zu können.
7. Wie siehst du die Beziehung eines Trainers zum Athleten? Welche Faktoren tragen deiner Meinung nach zu einem erfolgreichen sportlichen Weg bei?
Die Beziehung zwischen Athlet und Trainer finde ich extrem wichtig, denn erfolgreiche Leute sind, wenn sie im Spiel oder in unserer Sportart im Kampf sind, mit der Aufgabe beschäftigt. Und genau das war auch unsere Kampagne bei Olympia, „Der Weg ist das Ziel“. Der Prozess der Selbst‐ oder auch der Aufgabenorientierung kann sehr hart, manchmal auch schmerzlich sein. Alle Techniken, die ein Athlet lernt, auch die sportpsychologischen Techniken wie zum Beispiel das Visualisieren, funktionieren nicht, wenn ein Athlet unter Stress steht. Der Trainer muss deshalb manchmal in Bereiche gehen, die sehr unangenehm sind. Und nur wenn die Beziehung tragfähig ist, kann man diesen schwierigen Entwicklungsprozess auch angehen.
Ich würde z. B. heute manchmal mit einer weißen oder schwarzen Mütze ins Training gehen, damit die Athleten wüssten, mit welcher Aufgabe ich heute ins Training komme, bin ich z. B. heute der böse Onkel, der fiese Typ, dessen Aufgabe es ist, die Athleten an die Grenzen zu bringen, Schwächen aufzuzeigen usw., oder bin ich mit der weißen Mütze eher der Kumpel, der Freund. Es ist wichtig, als Trainer auch mal den Bösen zu spielen, die Athleten zu konfrontieren. Wir haben in der Schweiz das Problem, dass wir zu wenig Konkurrenz haben und dies, also die fehlende Konkurrenz ‐ die ja der Antrieb zur Entwicklung ist ‐, muss ein Trainer simulieren. Ich muss also im Training von den Athleten permanent das Äußerste abverlangen und genau das ist die Aufgabe des Trainers, den Athleten weiterzubringen.
Sergei Aschwanden wurde in einem Interview mal gefragt: Was ist dein Trainer für ein Typ? Da meinte er: „ Stellen Sie sich vor, ich springe gerade über eine Hochsprunglatte. Während ich springe, sehe ich, wie mein Trainer die Latte nimmt und diese höher legt.“
Aber dazu muss ein Athlet natürlich dem Trainer vertrauen und sich von ihm aus der Komfortzone locken lassen. Wenn die Beziehung nicht stimmt, kann ein Trainer mit unkonventionellen Maßnahmen die Beziehung kaputt machen. Ich weiß auch, dass ich mit meiner deutschen, direkten Art manchmal wie ein Panzer reinmarschiert bin und der Moment für eine Intervention eigentlich noch nicht da war oder auch die Beziehung für gewisse Veränderungen noch nicht bereit war. Heute würde ich in diesen Bereich, also in eine Beziehung, viel mehr Zeit investieren.
Karin Ritler Susebeek